Jan ‍‍2019 - תשעט / תשף

Mizwa

Wohltäter aus Versehen
Die Tora lehrt, auch denjenigen zu danken, die uns unbeabsichtigt einen Gefallen getan haben

Der Wochenabschnitt Schemot beschreibt den Anfang der Sklaverei der Israeliten in Ägypten unter der Herrschaft des Pharao. Mosche wird geboren, wächst im Palast auf, rettet einem Israeliten das Leben, indem er einen ägyptischen Aufseher erschlägt, und schließlich flüchtet er nach Midjan, wo er Zipora, die Tochter Jitros, heiratet.
In unserem Wochenabschnitt geht es unter anderem um Dankbarkeit. Als Mosche nach Midjan kommt, sieht er, wie Hirten die Töchter des Priesters Jitro daran hindern, aus einem Brunnen Wasser für seine Tiere zu schöpfen. Die Hirten wollen als Erste ans Wasser. Mosche setzt sich für die Mädchen ein und schützt sie vor den Hirten.
ESSEN Als sich Jitro wundert, dass seine Töchter früher als sonst nach Hause kommen, sagen sie: »Ein ägyptischer Mann hat uns vor den Hirten beschützt.« Da lädt Jitro Mosche zum Essen ein und gibt ihm Zipora, eine seiner sieben Töchter, zur Frau.
Dank gebührt auch jemandem, der unbeabsichtigt eine gute Tat vollbracht hat. So erzählt die Tora von der Plage der Stechmücken, bei der Mosches Bruder Aharon seinen Stab nehmen und auf den Staub der Erde schlagen sollte, damit aus ihm Mücken entstehen.
Auf die Frage, weshalb Mosche nicht wie bei etlichen anderen Plagen selbst den Stab nahm, sondern Aharon es tat, erklärt Raschi (1040–1105): Weil Mosche einst den Ägypter im Sand verscharrt hatte, musste er dem Sand dankbar sein und durfte ihn nicht schlagen.
Ähnlich verhielt es sich mit der ersten Plage mit dem Blut, bei der Aharon mit dem Stock auf den Nil schlagen sollte. Denn als Mosche drei Monate alt war, musste er vor den Ägyptern gerettet werden. Seine Mutter hatte ihn damals in einen Korb gelegt und am Ufer des Nils ausgesetzt, wo er von der Tochter Pharaos aufgenommen wurde. Dem Fluss hatte Mosche nun zu danken.
Hier geht es nicht um einen Menschen und auch nicht um eine gute Tat, die mit Absicht vollbracht wurde. Selbst wenn man den Sand und das Wasser fragen könnte, würden sie sagen, sie hatten keine Wahl.

MIDRASCH Eine weitere Stufe der Dankbarkeit erzählt uns der Midrasch Bereschit Rabba. Jitros Töchter sagten: »Ein ägyptischer Mann hat uns vor den Hirten beschützt.« Laut der einfachen Auslegung ist Mosche damit gemeint, der im Palast des Pharao aufwuchs und deswegen ägyptische Kleider trug.
Doch der Midrasch sagt, mit dem ägyptischen Mann sei nicht Mosche gemeint, und erzählt eine Geschichte: Eine Frau wurde von einer Schlange in den Fuß gebissen. Nach altem Brauch ging sie zum Fluss, um ihren Fuß ins kalte Wasser zu halten. Dort sah sie, dass ein Kind in den Fluten des Flusses zu ertrinken drohte, und rettete es. Als sich das Kind bei der Frau bedankte, erwiderte sie: »Sag nicht mir Danke. Bedanke dich bei der Schlange, die mich gebissen hat. Ohne sie wäre ich nicht hierhergekommen.«
Genauso erklärt der Midrasch: Mit dem ägyptischen Mann ist der Aufseher gemeint, den Mosche getötet hat. Als die Tat ans Licht kam, musste er aus Ägypten fliehen. Ohne diesen Ägypter wäre Mosche nicht nach Midjan gekommen und hätte die Töchter nicht beschützen können. Es gibt also jemanden, der eigentlich gar nicht vorhatte, eine gute Tat zu tun, sondern etwas Übles. Trotzdem muss man ihm danken.
QUELLE Dankbarkeit muss nicht unbedingt im gleichen Verhältnis zur Wohltat stehen. Die Tora sagt: Als Mosche im Körbchen im Nil schwamm, begleitete ihn seine Schwester Mirjam am Ufer, um zu sehen, was mit ihm geschieht. Sie passte auf ihn auf – eine Tat von einigen Minuten, vielleicht Stunden. Aus Dankbarkeit dafür wurde Mirjam mit der Quelle belohnt, aus der das jüdische Volk in der Wüste fast 40 Jahre lang trank. Die Quelle wird auch »Be’er Mirjam«, Mirjams Quelle, genannt.
40 Jahre sind nicht mit einigen Stunden zu vergleichen. Hieran ist zu sehen, wie G’tt sich bei einem Menschen bedankt, der jemandem einen Gefallen tut.
G’tt ist nicht darauf angewiesen, dass jemand Ihm einen Gefallen tut, Er kann selbst auf Mosche aufpassen. Dennoch bedankt er sich bei Mirjam mit einer unverhältnismäßig großen Belohnung. Um wie viel mehr muss dann erst ein Mensch einem Mitmenschen dankbar sein, der ihm einen Gefallen getan hat, auf den er wirklich angewiesen war!
Dankbar zu sein, ist ein Zeichen der Stärke. Wer sich bedankt, erklärt damit, dass er den anderen gebraucht hat. Das ist eigentlich demütigend, denn es macht ihn kleiner als sein Gegenüber. Er hat etwas gebraucht, und der andere konnte ihm helfen. Jetzt zeigt er ihm Dankbarkeit.
Wenn die Tora lehrt, dankbar zu sein, dann hat das nicht unbedingt mit dem Menschen zu tun, von dem die gute Tat ausging, sondern vielmehr mit dem Menschen, dem das Gute zuteilwurde.
GEBET Das erste Gebet am Tag spricht man am Morgen unmittelbar nach dem Aufwachen. Es beginnt mit einem Dank: »Mode ani« – »Ich danke«. »Ich danke Dir, lebender und bestehender König, dass Du mir meine Seele zurückgegeben hast, Dein Vertrauen ist groß.«
Das Mode ani ist eine ganz besondere Form der Danksagung. Es kommt uns so vor, als sei es selbstverständlich, am Morgen wieder aufzuwachen. Aber es hätte auch ganz anders kommen können – man hält sich das nur selten vor Augen.
Der Talmud (Brachot 57b) sagt, es gibt fünf Dinge, die jeweils ein Sechzigstel einer anderen Sache sind: Das Feuer ist ein Sechzigstel der Hölle (Gehinom), Honig ist ein Sechzigstel des Wüstenbrotes Manna, der Schabbat ist ein Sechzigstel der kommenden Welt, der Schlaf ein Sechzigstel des Todes, und ein Traum ist ein Sechzigstel der Newu’a, der g’ttlichen Vorsehung.
Wer schläft, ist also zu einem Sechzigstel ohne Leben. Deswegen lautet das erste Gebet am Morgen: »Danke, dass Du mir meine Seele zurückgegeben hast.«

Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 16.01.2017