Pinchas 5781
Der Wochenabschnitt Pinchas enthält eine Lektion aus der Meisterklasse über Führung, als Moses sich mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert sieht und er Gott bittet, einen Nachfolger zu ernennen. Große Führer machen sich um ihre Nachfolge Gedanken. In Parashat Chajej Sara sahen wir, wie Abraham seinen Diener anwies, eine Frau für seinen Sohn Isaak zu finden, damit die Familie des Bundes fortbestehe. König David erwählte Salomon, und Elia ernannte auf Gottes Geheiß hin Elischa, um sein Werk fortzusetzen.
Im Falle von Moses erkannten die Weisen in ihm eine gewisse Traurigkeit, als er erfuhr, dass keiner seiner Söhne, weder Gerschom noch Elieser, seine Nachfolge antreten würde.[1] Derart verhält es sich auch mit der Keter Tora, der unsichtbaren Krone der Tora, die von den Propheten und den Weisen getragen wird: Im Gegensatz zu den Kronen der Priesterschaft und des Königtums geht sie nicht dynastisch vom Vater auf den Sohn über. Präsenz und Wirkungskraft tun dies selten. Aufschlussreich ist jedoch die Sprache, der sich Moses bei der Formulierung seiner Bitte bedient:
„Der Ewige, der Gott des Geistes in jedem Leibe, setze eine Person über die Gemeinde, die vor ihr aus- und eingehe, die sie aus- und einführe, damit die Gemeinde des Ewigen nicht wie eine Herde ohne Hirten sei (Num. 27:16-17).“
Aus dieser Wortwahl lassen sich drei grundlegende Lehren über Führerschaft ableiten.
Die erste ist enthalten in der ungewöhnlich langen Beschreibung Gottes als „der Ewige, der Gott des Geistes in jedem Leibe“. Das bedeutet, so erklärt Raschi: „Herr des Universums, das Wesen eines jeden Menschen ist Dir offenbar, und keines gleicht dem anderen. Ernenne über sie einen Führer, der mit jedem gemäß seinem individuellen Charakter umgehen wird.“[2]
Maimonides sagt, dass dies ein grundlegendes Merkmal des menschlichen Wesens ist. Der Homo sapiens ist die Vielfältigste aller Lebensformen. Kein Mensch gleicht dem anderen, wobei die Stärken des einen die Schwächen des anderen ergänzen und umgekehrt. Deshalb ist die Zusammenarbeit unter den Menschen unerlässlich. Der Zusammenhalt ist jedoch auch nicht immer einfach, weil jeder von uns auf unterschiedliche Weise auf Herausforderungen reagiert. Das ist es, was Führung notwendig, aber auch schwierig macht:
Diese große Vielfalt und die Notwendigkeit des sozialen Miteinanders sind wesentliche Elemente der menschlichen Natur. Das Wohlergehen der Gemeinschaft erfordert jedoch einen Führer, der in der Lage ist, die Handlungen eines jeden Menschen zu regulieren; er muss jedem Mangel abhelfen, jede Ausschweifung eindämmen und das Verhalten aller lenken, damit die natürliche Vielfalt durch die Einheitlichkeit der Gesetzgebung ausgeglichen und die Ordnung der Gesellschaft gut aufgestellt ist.[3]
Führungskräfte respektieren die Unterschiede, aber wie der Dirigent eines Orchesters integrieren sie sie und tragen dafür Sorge, dass jedes Instrument in der Vielfalt der Stimmen seinen eigenen Part im harmonischen Klangbild aller spielt. Wahre Führungspersönlichkeiten versuchen nicht, Uniformität zu erzwingen. Sie respektieren die Vielfalt.
Ein zweiter Hinweis in der Formulierung Moses’ Bitte ist in dem Wort Ish, „eine Person über der Gemeinde“ enthalten, worauf Gott antwortet: „Nimm dir Josua, eine Person [Ish] des Geistes“ (V. 18). Das Wort Ish zeigt hier etwas anderes als das Geschlecht an. Das kann man an den beiden Stellen sehen, an denen die Tora die Formulierung Ha’isch Mosche, „der Mann Mose“, verwendet:
Die eine Stelle steht im Buch Exodus:
Der Mann Moses war hoch angesehen [gadol me’od, wörtlich „sehr groß“] im Land Ägypten, in den Augen der Knechte des Pharao und des Volkes (Ex. 11:3).
Die zweite findet sich in Numeri:
Der Mann Moses aber war sehr bescheiden [anaw me’od], mehr als irgendein Mensch auf der Erde (Num. 12:3).
Man beachte die beiden scheinbar gegensätzlichen Eigenschaften, die Moses in hohem Maße (me’od, „sehr“) besaß: er war groß und bescheiden. Dies ist die Kombination von Eigenschaften, die Rabbi Jochanan Gott selbst zuschreibt: „Wo immer du Gottes Größe findest, dort findest du auch seine Demut.“[4] Hier ist einer seiner Beweistexte: „Denn der Ewige, euer Gott, ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der große, mächtig und furchterregende Gott, der kein Ansehen der Person kennt und keine Bestechung annimmt. Er verschafft der Waise und der Witwe ihr Recht und liebt den Fremden, der unter euch wohnt, und gibt ihm Nahrung und Kleidung“ (Deut. 10:17-18).
Ein Ish im Kontext von Führung ist nicht ein Mann schlechthin, sondern vielmehr jemand, der ein „Mensch“ ist, eine Person, deren Größe nicht überwältigt, die sich um Menschen kümmert, die andere oft ignorieren, „die Waise, die Witwe und den Fremden“, die so viel Zeit mit den Menschen am Rande der Gesellschaft verbringt wie mit den Eliten, die zu allen gleichermaßen höflich ist und die Respekt erhält, weil sie Respekt zollt.
Das eigentliche Rätsel liegt jedoch im dritten Satz: „Setze eine Person über die Gemeinde, die vor ihnen aus- und eingehe, die sie aus- und einführe.“ Das klingt, als würde dasselbe zweimal gesagt, was die Tora nicht zu tun pflegt. Was verbirgt sich dahinter?
Die Tora spielt hier auf einen der herausforderndsten Aspekte der Führung an: Zeit und Geschwindigkeit. Der erste Satz ist einfach: „eine Person, die vor ihnen aus- und eingehe“. Das bedeutet, dass ein Anführer an der Spitze gehen muss. Dies ist etwas ganz anderes als die apokryphe Bemerkung eines britischen Politikers: „Natürlich folge ich der Partei. Schließlich bin ich ihr Anführer.“[5]
Entscheidend ist der zweite Satz. Mosche beschreibt seine Rolle als die des Führers, der die Gemeinde „aus- und einführt.“ Das bedeutet: Ein Anführer muss vorangehen, jedoch darf er nicht so weit voranschreiten, dass er, wenn er sich umdreht, feststellt, dass ihm niemand folgt. Das Tempo ist von maßgeblicher Bedeutung. Mitunter kommt es vor, das ein Leiter zu schnell geht. Das ist der Moment, in dem sich Tragödien ereignen.
Um zwei sehr unterschiedliche Beispiele anzuführen: Als Margaret Thatcher Premierministerin war, wusste sie, dass sie sich mit der Bergarbeitergewerkschaft in einem langen und bitteren Kampf auseinandersetzen musste. Im Jahr 1981 streikten sie für eine Lohnerhöhung. Frau Thatcher erkundigte sich sofort nach der Menge der Kohlevorräte. Sie wollte wissen, wie lange das Land ohne neuen Abbau überleben konnte. Sobald sie herausfand, dass die Vorräte niedrig waren, gestand sie den Bergarbeitern den Sieg praktisch zu. Sie veranlasste dann in aller Stille, dass die Kohlevorräte aufgestockt wurden. Das Ergebnis: Als die Bergleute 1983 erneut in den Streik traten, widersetzte sie sich ihren Forderungen. Es kam zu einem längeren Streik, und dieses Mal waren es die Bergarbeiter, die sich geschlagen geben mussten. Eine Schlacht, die Margaret Thatcher 1981 nicht gewann, konnte sie 1983 für sich entscheiden.
Das so ganz andere Beispiel betrifft den israelischen Premierminister Yitzhak Rabin. Der Friedensprozess, den er zwischen 1993 und 1995 mit den Palästinensern einleitete, war tief umstritten, innerhalb Israels und darüber hinaus. Es gab wohl Unterstützung, aber auch viel Opposition. 1995 nahmen die Spannungen zu. Im September jenes Jahres schrieb ich einen Artikel in der Presse, in dem ich dem Premier meine persönliche Unterstützung zusicherte. Gleichzeitig schrieb ich ihm jedoch privat, dass ich mir große Sorgen über die interne Opposition gegen den Plan machte. Ich drängte ihn, genauso viel Zeit für die Verhandlungen mit seinen israelischen Mitbürgern – insbesondere den religiösen Zionisten – aufzuwenden wie mit den Palästinensern. Mein Schreiben blieb unbeantwortet.
Am Motzaej Schabbat, dem 4. November 1995, hörten wir die Nachricht, dass Premierminister Rabin bei einer Friedenskundgebung von einem jungen religiösen Zionisten ermordet worden war. Ich nahm an der Beerdigung in Jerusalem teil. Als ich am nächsten Tag zurückkehrte, ging ich direkt vom Flughafen zum israelischen Botschafter, um mich mit ihm zusammenzusetzen und ihm von der Beerdigung zu berichten, der er nicht beiwohnen konnte, da er in London bleiben musste, um den vielen Presseanfragen zu entsprechen.
Als ich sein Büro betrat, reichte er mir einen Umschlag mit den Worten: „Das ist gerade für Sie in der Diplomatentasche angekommen.“ Es war Yitzhak Rabins Antwort auf meinen Brief – einer der letzten Briefe, die er schrieb. Es war eine bewegende Bekräftigung seines Glaubens, aber tragischerweise war er zu dem Zeitpunkt, als ich ihn erhielt, nicht mehr am Leben. Er hatte den Frieden angestrebt, wie es uns geboten ist, aber er war jenen, die noch nicht bereit waren, ihm zuzuhören, zu schnell vorgegangen.
Moses wusste dies selbst aus der Episode mit den Spionen. Wie Maimonides im Führer der Unschlüssigen[6] sagt, war die Aufgabe, Schlachten zu schlagen und das Land zu erobern, einfach zu viel für eine Generation, die in die Sklaverei hineingeboren wurde. Dies konnte nur von ihren Kindern, den in Freiheit Geborenen, vollbracht werden. Manchmal dauert eine Reise, die auf der Landkarte klein erscheint, vierzig Jahre.
Respekt vor der Vielfalt, Fürsorge für die Geringen und Machtlosen ebenso wie für die Mächtigen und Großen und die Bereitschaft, nicht schneller zu gehen, als die Menschen ertragen können – das sind drei wesentliche Eigenschaften eines Anführers, wie Moses aus eigener Erfahrung wusste und wie Josua durch seine lange Lehrzeit bei dem großen Mann selbst lernte.
[1] So die Andeutung in der Aussage, dass „Moses sich danach sehnte, so wie Aaron zu sterben“, Sifrej, Pinchas, 136, s.v. Wajomer.
[2] Raschi zu Num. 27:16, basierend auf Tanchuma, Pinchas, 11.
[3] Maimonides, Führer der Unschlüssigen, Buch 2, Kapitel 40.
[4] Aus der Liturgie am Samstagabend. Die Quelle ist Pessikta Sutreta, Ejkew.
[5] Diese Aussage wurde Benjamin Disraeli, Stanley Baldwin und Alexandre Auguste Ledru-Rollin zugeschrieben.
[6] Führer der Unschlüssigen, Buch 3, Kapitel 32.