Erst jetzt, da wir zum Wochenabschnitt Nizawim kommen, beginnen wir, das volle Ausmaß des riesigen, weltverändernden Projekts zu erahnen, das im Mittelpunkt der Begegnung zwischen Mensch und Gott zu Lebzeiten von Moses und der Geburt von Israel als Volk stand.
Um dies zu verstehen, erinnern wir uns des berühmten Satzes von Sherlock Holmes. „Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit“, sagte er zu Dr. Watson, „auf den merkwürdigen Vorfall mit dem Hund in der Nacht lenken.“ „Aber der Hund hat nachts gar nichts getan“, sagte Watson. „Das“, erwiderte Holmes, „ist ja der merkwürdige Vorfall.“[1] Um zu wissen, worum es in einem Buch geht, muss man sich manchmal auf das konzentrieren, was es nicht sagt, und nicht nur auf das, was es sagt.
Was in der Tora fehlt – und das erscheint fast unerklärlich angesichts des Hintergrunds, vor dem sie spielt – ist eine Fixierung auf den Tod. Die alten Ägypter waren vom Tod besessen. Ihre monumentalen Bauwerke waren ein Versuch, dem Tod zu trotzen. Die Pyramiden waren riesige Mausoleen. Genauer gesagt, waren sie Eingangsportale, durch die die Seele eines verstorbenen Pharaos in den Himmel aufsteigen und sich den Unsterblichen dort anschließen konnte. Der berühmteste ägyptische Text, der uns überliefert wurde, ist das Ägyptische Totenbuch. Nur das Leben nach dem Tod ist real. Das Leben ist eine Vorbereitung auf den Tod.
Nichts davon steht in der Tora, zumindest nicht ausdrücklich. Die Juden glaubten an Olam Haba, die kommende Welt, das Leben nach dem Tod. Sie glaubten an Techijat Hametim, die Auferstehung der Toten.[2] Allein im zweiten Absatz der Amida gibt es sechs Hinweise darauf. Im Tanach aber fehlen diese Ideen fast völlig, und auch genau an den Stellen, an denen wir sie erwartet hätten.
Das Buch Kohelet (Prediger) ist ein ausgedehntes Klagelied über die menschliche Sterblichkeit. Hawel Hawalim… Hakol Hawel: „Alles ist eitel, denn das Leben ist nur ein flüchtiger Hauch“ (Prediger 1:2). Warum hat der Verfasser des Predigers nicht die kommende Welt und das Leben nach dem Tod erwähnt? Ein weiteres Beispiel: Das Buch Hiob ist ein anhaltender Protest gegen die offensichtliche Ungerechtigkeit in der Welt. Warum hat niemand Hiob entgegengehalten: „Du und andere unschuldig leidende Menschen werden im Jenseits belohnt werden?“ Wir glauben an ein Leben nach dem Tod. Warum wird es dann in der Tora nicht erwähnt, sondern nur angedeutet? Ein merkwürdiger Umstand.
Die einfache Antwort ist, dass die Besessenheit vom Tod letztlich das Leben abwertet. Warum gegen die Übel und Ungerechtigkeiten der Welt kämpfen, wenn dieses Leben nur eine Vorbereitung auf die kommende Welt ist? Ernest Becker argumentiert in seinem Klassiker Die Verleugnung des Todes, dass die Angst vor unserer eigenen Sterblichkeit eine der treibenden Kräfte der Zivilisation war.[3] In der Antike führte sie dazu, dass die Massen versklavt und zu riesigen Arbeiterheeren gemacht wurden, um monumentale Gebäude zu errichten, die so lange wie die Zeit selbst stehen würden. Sie führte zum antiken Kult des Helden, des Mannes, der durch kühne Taten auf dem Schlachtfeld unsterblich wird. Wir fürchten den Tod, empfinden für ihn Hassliebe. Freud nannte dies Thanatos, den Todestrieb, und sagte, er sei eine der beiden Triebkräfte des Lebens, die andere sei Eros.
Das Judentum ist ein nachhaltiger Protest gegen diese Weltanschauung. Deshalb „weiß niemand, wo Moses begraben liegt“ (Deut. 34:6), damit sein Grab niemals zu einem Ort der Wallfahrt und Anbetung wird. Deshalb hatten die Israeliten anstelle einer Pyramide oder eines Tempels, wie ihn Ramses II. in Abu Simbel errichtete, fast fünf Jahrhunderte lang bis zu den Tagen Salomons nur den Mischkan, ein tragbares Heiligtum, das eher einem Zelt als einem Tempel glich. Deshalb verunreinigt im Judentum der Tod, und deshalb war der Ritus der Roten Kuh notwendig, um die Menschen vom Kontakt mit dem Tod zu reinigen. Je heiliger man ist – wenn man ein Kohen ist, und erst recht, wenn man der Hohepriester ist -, desto weniger darf man mit einem Toten in Berührung kommen oder mit ihm unter einem Dach sein. Gott ist nicht im Tod, sondern im Leben.
Nur vor diesem ägyptischen Hintergrund können wir das Drama hinter den Worten erahnen, die uns ob ihrer Vertrautheit nicht mehr überraschen, die monumentalen Worte, mit denen Moses uns für alle Zeiten vor die Wahl stellt:
Siehe, ich habe euch heute vor die Wahl gestellt zwischen Leben und Gutem, zwischen Tod und Bösem… Ich rufe heute den Himmel und die Erde zu Zeugen gegen euch, dass ich euch vor die Wahl gestellt habe zwischen Leben und Tod, zwischen Segen und Fluch; so wählt denn das Leben, damit ihr und eure Kinder leben (Deut. 30:15, 19).
Das Leben ist gut, der Tod ist schlecht. Das Leben ist ein Segen, der Tod ein Fluch. Das sind Binsenweisheiten für uns. Warum erwähnen wir sie überhaupt? Weil sie in der antiken Welt keine gängigen Vorstellungen waren. Sie waren revolutionär und sind es immer noch.
Wie besiegt man dann den Tod? Ja, es gibt ein Leben nach dem Tod. Ja, es gibt Techijat Hametim, die Auferstehung. Moses aber konzentriert sich nicht auf diese offensichtlichen Ideen. Er sagt uns etwas ganz anderes: Man erlangt Unsterblichkeit, indem man Teil eines Bundes ist – eines Bundes mit der Ewigkeit selbst, eines Bundes mit Gott.
Lebt man sein Leben innerhalb eines Bundes, geschieht etwas Außergewöhnliches. Eltern und Großeltern leben in einem selbst weiter. Man selbst lebt in seinen Kindern und Enkelkindern weiter. Sie sind ein Teil des eigenen Lebens und man selbst ist ein Teil des ihrigen. Das ist es, was Moses meinte, als er zu Beginn der Parascha dieser Woche sagte:
Nicht mit euch allein schließe ich diesen Bund und diesen Schwur, sondern mit allen, die heute mit uns hier vor dem Ewigen, unserem Gott, stehen, und auch mit denen, die heute nicht mit uns hier sind (Deut. 29:13-14).
Zu Moses’ Zeiten bedeutete dieser letzte Satz „eure noch nicht geborenen Kinder“. Er brauchte „eure Eltern, die nicht mehr leben“ nicht mit einzubeziehen, weil ihre Eltern selbst vierzig Jahre zuvor am Berge Sinai einen Bund mit Gott geschlossen hatten. Aber was Moses im weiteren Sinne meinte, ist, dass, wenn wir den Bund erneuern, wenn wir unser Leben dem Glauben und der Lebensweise unserer Vorfahren widmen, sie in uns unsterblich sind, so wie wir in unseren Kindern unsterblich werden.
Gerade weil das Judentum auf das Diesseits und nicht auf das Jenseits ausgerichtet ist, ist es von allen großen Religionen diejenige, die am meisten den Fokus auf die Kinder richtet. Sie sind unsere Unsterblichkeit. Das ist es, was Rachel meinte, als sie sagte: „Gib mir Kinder, sonst bin ich einer Toten gleich“ (Gen. 30:1). Das ist es, was Abraham meinte, als er sagte: „Ewiger, Gott, was willst du mir geben, wenn ich doch kinderlos bleibe?“ (Gen. 15:2). Wir sind nicht alle dazu bestimmt, Kinder zu bekommen. Die Weisen lehrten, dass das Gute, das wir tun, unsere Toldot, unsere Nachkommenschaft, ausmacht. Aber indem wir das Andenken an unsere Eltern ehren und Kinder aufziehen, um die jüdische Saga fortzusetzen, erreichen wir die einzige Form der Unsterblichkeit, die diesseits des Grabes liegt, in dieser Welt, die Gott für gut erklärt hat.
Betrachten wir nun die beiden letzten Gebote in der Tora, die im Wochenabschnitt Wajelech dargelegt sind und die Moses ganz am Ende seines Lebens verfügte. Das eine ist Hakhel, das Gebot, dass der König das Volk alle sieben Jahre zu einer Versammlung einberuft:
Alle sieben Jahre… versammelt das Volk – Männer, Frauen, Kinder und den Fremden, der in euren Städten wohnt -, damit sie hören und lernen, den Ewigen, euren Gott, zu fürchten und alle Worte dieses dieser Lehre sorgfältig zu befolgen (Deut. 31:12).
Die Bedeutung dieses Befehls ist einfach. Moses sagt damit: Es reicht nicht aus, dass eure Eltern am Berg Sinai einen Bund mit Gott geschlossen haben oder dass ihr selbst ihn hier in der Ebene von Moab mit mir von Neuem eingegangen seid. Der Bund muss immer wieder erneuert werden, alle sieben Jahre, damit er nicht zur Geschichte wird. Er bleibt immer gegenwärtig, wird nie alt, weil ihm alle sieben Jahre neue Kraft eingegeben wird.
Und das letzte Geheiß? „Schreibe dieses Lied auf und lehre es die Israeliten und lass sie es singen, damit es ein Zeuge für mich gegen sie sei“ (Deut. 31:19). Nach der Überlieferung ist dies das Gebot, einen Sefer Tora (zumindest einen Teil davon) zu schreiben. Wie Maimonides es ausdrückt: „Selbst wenn deine Vorfahren dir einen Sefer Tora hinterlassen haben, ist es dir dennoch geboten, einen für dich selbst zu schreiben.“
Was Moses in dieser letzten Anweisung an das Volk, das er vierzig Jahre lang geführt hat, sagt, ist: Es genügt nicht zu sagen: Unsere Vorfahren haben die Tora von Moses oder von Gott empfangen. Ihr müsst sie euch in jeder Generation neu machen. Die Tora sei nicht nur der Glaube eurer Eltern oder Großeltern, sondern ihr sollt sie zu eurem eigenen Bekenntnis machen. Wenn ihr sie schreibt, wird sie euch schreiben. Das ewige Wort des ewigen Gottes ist euer Anteil an der Ewigkeit.
Wir spüren jetzt die ganze Wucht des Dramas dieser letzten Tage in Moses’ Leben. Er wusste, dass er bald sterben würde, dass er den Jordan nicht überqueren und das Land nicht betreten würde, dem entgegen er sein ganzes Leben lang das Volk geführt hatte. Moses, da er sich mit seiner eigenen Sterblichkeit auseinandersetzt, fordert uns in jeder Generation auf, uns mit der unseren auseinanderzusetzen.
Unser Glaube, so sagt uns Moses, ist nicht wie der der Ägypter, der Griechen, der Römer oder praktisch aller anderen bekannten Zivilisationen der Geschichte. Wir finden Gott nicht in einer Sphäre jenseits des Lebens – im Himmel oder nach dem Tod, in der mystischen Loslösung von der Welt oder in der philosophischen Betrachtung. Wir finden Gott im Leben. Wir finden Gott – in den Schlüsselwörtern von Dewarim – in Liebe und Freude. Um Gott zu finden, sagt er in der Parascha dieser Woche, muss man nicht in den Himmel steigen oder das Meer überqueren (Deut. 30,12-13). Gott ist hier. Gott ist jetzt. Gott ist Leben.
Und dieses Leben, obwohl es eines Tages enden wird, ist in Wahrheit nicht zu Ende. Denn wenn du den Bund hältst, dann werden deine Vorfahren in dir weiterleben, und du wirst in deinen Kindern (oder deinen Schülern oder den Empfängern deiner Liebestaten) weiterleben. Alle sieben Jahre wird der Bund wieder neu geschlossen. Jede Generation wird ihren eigenen Sefer Tora schreiben. Das Tor zur Ewigkeit ist nicht der Tod. Es ist das Leben in einem Bund, der immer wieder erneuert wird, in Worten, die in unsere Herzen und in die Herzen unserer Kinder eingeprägt sind.
Und so wurde Moses, der größte Führer, den wir je hatten, unsterblich. Nicht indem er ewig lebte. Nicht, indem er ein Grab und einen Tempel zu seiner Ehre baute. Wir wissen nicht einmal, wo er begraben ist. Die einzige physische Struktur, die er uns hinterlassen hat, war tragbar, denn das Leben selbst ist eine Reise. Er wurde nicht einmal unsterblich auf eine Art, wie es Aaron wurde, indem er seine Kinder zu seinen Nachfolgern machte. Er wurde unsterblich, indem er uns zu seinen Schülern machte. Und in einer ihrer ersten aufgezeichneten Äußerungen sagten die Rabbiner eben dies: Stelle viele Schüler auf.
Um ein Führer zu sein, braucht man weder eine Krone noch ein Amtsgewand. Alles, was es zu tun gilt, ist, das eigene Kapitel in der Geschichte zu schreiben, Taten zu vollbringen, die einen Teil des Schmerzes in dieser Welt heilen, und so zu handeln, dass andere ein wenig besser werden, weil sie uns gekannt haben. Lebe so, dass unser historischer Bund mit Gott auf die einzige Weise erneuert wird, die wirklich zählt: im Leben. Moses’ letztes Testament an uns am Ende seiner Tage, als seine Gedanken sich so leicht auf den Tod hätte richten können, lautete: Wähle das Leben.
[1] Arthur Conan Doyle, Silberstern.
[2] Die Mischna in Sanhedrin 10:1 sagt, dass der Glaube, dass die Auferstehung der Toten in der Tora erwähnt wird, ein grundlegender Bestandteil des jüdischen Glaubens ist. Jeder Auslegung zufolge ist diese Erwähnung jedoch implizit, nicht explizit.
[3] New York, Free Press, 1973.