Moses blieb ungeschwächt. Das ist das Lob, das die Tora ihm am Ende seines langen und ereignisreichen Lebens zuteil werden lässt:
Moses war hundertzwanzig Jahre alt, als er starb, doch seine Augen waren ungetrübt und seine natürliche Kraft ungebrochen (Deut. 34:7).
Irgendwie trotzte Moses dem Gesetz der Entropie, das besagt, dass alle Systeme mit der Zeit an Energie verlieren. Dieses Gesetz gilt auch für Menschen, insbesondere für Führungspersönlichkeiten. Die Art von Führung, die Moses ausübte – auf Menschen einzugehen, sie zur Veränderung zu bewegen, sie zu überzeugen, nicht mehr wie Sklaven zu denken und zu fühlen, sondern die Verantwortung freier Menschen anzunehmen -, ist anstrengend und erschöpfend. Es gab Zeiten, in denen Moses dem Burnout und der Verzweiflung nahe war. Was war dann das Geheimnis der unverminderten Energie seiner letzten Jahre?
Die Tora deutet die Antwort schon in den Worten an, mit denen sie das Phänomen selbst beschreibt. Ich dachte immer, die Worte „seine Augen waren ungetrübt“ und „seine natürliche Kraft ungebrochen“ wären einfach zwei Beschreibungen, bis mir langsam aufging, dass die erste eine Erklärung für die zweite ist: Warum war seine Energie ungebremst? Weil sein Blick ungetrübt war. Er hat die Vision und die hohen Ideale seiner Jugend nie verloren. Er war am Ende genauso leidenschaftlich wie am Anfang. Sein beständiges Engagement für Gerechtigkeit, Freiheit, Verantwortung und Mitgefühl war ungebrochen, trotz der vielen Enttäuschungen, die er in seinen vierzig Jahren als Führungskraft erlebte. Die Moral ist klar: Willst du jung bleiben, darfst du niemals deine Ideale aufgeben.
Ich erinnere mich noch deutlich, als wäre es gestern gewesen, an eine schmerzhafte Erfahrung, die ich vor fast vierzig Jahren machte, als ich mein Studium zum Rabbiner begann. Wann immer eine Gemeinde jemanden für eine Predigt oder einen Gottesdienst brauchte – der eigene Rabbiner war krank oder im Urlaub -, meldete ich mich freiwillig. Das war oft eine mühsame und undankbare Arbeit. Es bedeutete, am Schabbat von zu Hause weg zu sein, in einer zu drei Viertel leeren Synagoge zu predigen, und oft nahm man mich als selbstverständlich hin. Einmal beschwerte ich mich bei dem Rabbiner einer dieser Gemeinden, deren Platz ich vorübergehend eingenommen hatte. Er sagte: „Sie sind also ein Idealist, ja? Mal sehen, wie weit Sie damit kommen.“
Ich hatte Mitleid mit diesem traurigen, verbitterten Mann. Vielleicht hatte das Schicksal es nicht gut mit ihm gemeint. Ich habe nie erfahren, warum er so geantwortet hat. Aber irgendwann muss er wohl die Segel gestrichen haben. Er machte immer noch alles mit, aber er war nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache. Idealismus schien ihm eine Illusion der Jugend zu sein, die schließlich an dem harten Felsen der Realität Schiffbruch erleiden würde.
Ich war und bin der Ansicht, dass man ohne Leidenschaft keine transformative Führungskraft sein kann. Wenn man selbst keine Begeisterung empfindet, kann man auch andere nicht inspirieren. Moses verlor nie die Vision seiner ersten Begegnung mit Gott im Dornbusch, der in Flammen stand, aber nicht verbrannte. So sehe ich Moses: als den Mann, der entflammt war, aber nicht verbrannte. Solange diese Vision ihn begleitete, und das tat sie bis zum Ende seines Lebens, blieb er voller Energie. Das spürt man an der anhaltenden Kraft des Buches Dewarim, der längsten Serie von Reden im Tanach.
Ideale erhalten den menschlichen Geist am Leben. Selbst unter einigen der repressivsten Regime der Geschichte, wie im stalinistischen Russland oder im kommunistischen China. Wann immer sie die Herzen der Menschen ergreifen, befeuern sie ihren Widerstand.
Die Regel lautet also: Verrate nie deine Ideale. Wenn ein Weg blockiert ist, suche nach einem anderen. Wenn du feststellst, dass ein Ansatz scheitert, gibt es vielleicht einen anderen. Wenn deine Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt sind, versuche es nur weiter. Meistens stellt sich der Erfolg gerade dann ein, wenn man glaubt, man sei gescheitert. So war es bei Churchill, so auch bei Lincoln. So war es auch bei Schriftstellern, deren Bücher von einem Verleger nach dem anderen abgelehnt wurden, nur um am Ende dann doch zu einem großen Triumph zu werden. Wenn der Erfolg so einfach wäre, bräuchten wir nicht stolz darauf zu sein. Größe erfordert Beharrlichkeit. Große Führungspersönlichkeiten geben niemals auf. Sie machen weiter und weiter, inspiriert von einer Vision, die sie nicht preisgeben wollen.
Als Moses auf sein Leben zurückblickte, wird er sich sicher gefragt haben, ob er wirklich etwas erreicht hat. Vierzig Jahre lang hatte er das Volk angeführt, doch das Ziel, das gelobte Land, war ihm selbst verwehrt. Er gab ihnen Gesetze, die sie oft brachen. Er vollbrachte Wunder, doch sie beklagten sich weiterhin.
Wir spüren seine aufgestauten Emotionen, als er sagte: „Ihr habt euch gegen Gott aufgelehnt, seit dem Tag, an dem ich euch kannte“ (Deut. 9:24). Und: „Denn ich weiß, wie rebellisch und halsstarrig ihr seid. Wenn ihr euch schon gegen Gott auflehnt, solange ich lebe und bei euch bin, um wie viel mehr werdet ihr euch auflehnen, wenn ich gestorben bin!“ (Deut. 31:27). Dennoch hat Moses nie aufgegeben oder Kompromisse hinsichtlich seiner Ideale gemacht. So starb zwar der Mann, aber nicht seine Worte. Körperlich alt, blieb er geistig jung.
Zyniker sind frustrierte Idealisten. Sie sind mit großen Erwartungen angetreten. Dann aber stellten sie fest, dass das Leben nicht einfach ist, dass die Dinge nicht immer so laufen, wie wir es uns erhofft haben. Unseren Bemühungen stellen sich Hindernisse in den Weg. Unsere Pläne werden durchkreuzt. Wir glauben, nicht die Anerkennung oder Ehre zu erhalten, die uns zusteht. Also ziehen wir uns in uns selbst zurück. Wir geben anderen die Schuld für unsere Misserfolge und konzentrieren uns auf die Fehler anderer. Wir glauben, wir wären doch zu mehr imstande gewesen.
Vielleicht hätten wir unseren hohen Erwartungen gerecht werden können. Warum haben wir es dann nicht getan? Weil wir aufgegeben haben. Weil wir zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgehört haben zu wachsen. Wir trösten uns über unsere eigenen missglückten Versuche, Größe zu erlangen, hinweg, indem wir andere gering behandeln, ihre Bemühungen herabwürdigen und ihre Ideale verlachen. Das ist keine Art zu leben, eher eine Art von Tod.
Als Oberrabbiner besuchte ich oft Altersheime, und in einem dieser Heime lernte ich Florence kennen. Sie war 103 Jahre alt, ging auf die 104 zu, doch wirkte sie wie eine junge Frau. Sie war fröhlich, aktiv und voller Leben. Ihre Augen leuchteten mit Lebensfreude. Ich fragte sie nach dem Geheimnis der ewigen Jugend. Mit einem Lächeln sagte sie: „Habe niemals Angst, etwas Neues zu lernen.“ Damals entdeckte ich, dass man 103 Jahre alt und trotzdem jung sein kann, wenn man bereit ist, etwas Neues zu lernen.[1] Wenn man nicht bereit ist, zu lernen, kann man mit 23 schon alt sein.
Moses hat nie aufgehört zu lernen, zu wachsen, zu lehren und zu führen. Im Buch Dewarim, das er ganz am Ende seines Lebens vortrug, steigerte er sich zu einer Eloquenz, einer Vision und einer Leidenschaft, die alles übertraf, was er zuvor gesagt hatte. Er war ein Mann, der den Kampf nie aufgegeben hatte. Die Times interviewte einmal ein angesehenes Mitglied der jüdischen Gemeinde anlässlich seines 92. Geburtstages. Der Interviewer sagte: „Die meisten Menschen, die 92 Jahre alt werden, geben nicht mehr so viel Gas. Sie aber scheinen geradezu zu beschleunigen. Warum?“ Er antwortete: „Wenn man 92 Jahre alt wird, sieht man, wie sich die Tür zu schließen beginnt. Ich habe noch so viel zu tun, bevor sich die Tür schließt, dass ich, je älter ich werde, umso härter arbeiten muss.“ Auch das ist ein Rezept für Arichut Jamim, ein langes Leben, das nicht verblasst.
Psalm 92, das Lied zum Schabbat, endet mit den Worten: „Gepflanzt im Haus des Herrn, gedeihen [die Gerechten] in den Höfen unseres Gottes. Sie tragen noch im Alter Früchte, sie bleiben frisch und grün und verkünden: Gott ist gerecht, er ist mein Fels, und es ist kein Fehl an ihm.“ Was ist der Zusammenhang zwischen den Gerechten, die im Alter noch Früchte tragen, und ihrem Glauben, dass „Gott gerecht ist“? Die Gerechten machen Gott nicht für die Übel und das Leid in der Welt verantwortlich. Sie wissen, dass Gott uns als physische Wesen in ein physisches Universum gesetzt hat, mit all dem Schmerz, der damit verbunden ist. Sie wissen, dass es an uns liegt, das Gute zu tun, das wir können, und andere zu ermutigen, mehr zu tun. Sie übernehmen Verantwortung und wissen, dass die menschliche Existenz trotz aller Prüfungen und Qualen das größte Privileg ist, das es gibt. Deshalb tragen sie auch im Alter noch Früchte. Sie bewahren sich die Ideale ihrer Jugend.
Gib niemals deine Ideale auf. Gib dich niemals der Niederlage oder Verzweiflung hin. Höre niemals auf zu reisen, nur weil der Weg lang und beschwerlich ist. Das ist er immer. Moses’ Augen waren ungetrübt. Er verlor nicht die Vision, die ihn als jungen Mann zu einem Kämpfer für Gerechtigkeit gemacht hat. Er wurde nicht zum Zyniker, wurde nicht verbittert oder traurig, obwohl er genügend Grund dazu hatte. Er wusste, dass es Dinge gab, die er nicht mehr erleben würde, und so lehrte er die nächste Generation, wie man sie erreichen kann. Das Ergebnis war, dass seine natürliche Energie ungebremst blieb. Sein Körper wurde alt, aber sein Geist und seine Seele blieben jung. Moses, der Sterbliche, erlangte Unsterblichkeit, und wenn wir in seine Fußstapfen treten, können wir dies auch. Das Gute, das wir tun, lebt weiter. Der Segen, den wir in das Leben anderer bringen, stirbt nie.
[1] Der Talmud (Schabbat 30b) sagt etwas Ähnliches über König David. Solange er weiter lernte, hatte der Todesengel keine Macht über ihn.
- Wie hängen die beiden folgenden Beschreibungen von Moses am Ende seines Lebens zusammen: „Seine Augen waren ungetrübt“ und „seine natürliche Kraft ungebrochen“?
- Warum sind eine klare Vision und das Bekenntnis zu Idealen für eine Führungspersönlichkeit so wichtig?
- Wie hat Rabbi Sacks diese Eigenschaften verkörpert?
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