Jan ‍‍2022 - תשפב / תשפג

Die Heilung der Finsternis im Herzen

   Die Bewegung für ein besseres Ungarn, kurz Jobbik genannt, ist eine ultranationalistische politische Partei in Ungarn, die als faschistisch, neonazistisch, rassistisch und antisemitisch gilt. Sie hat Juden beschuldigt, Teil einer „Intrige westlicher Wirtschaftsinteressen“ zu sein, die versuche, die Welt zu kontrollieren: eine Verleumdung, die bereits die Protokolle der Weisen von Zion in die Welt gesetzt haben, eine Fiktion, die von Mitgliedern des zaristischen Geheimdienstes in Paris in den späten 1890er Jahren ausgeheckt und 1921 von der Times als Fälschung entlarvt wurde.[1] Bei einer Gelegenheit forderte die Jobbik-Partei, eine Liste über alle Juden in der ungarischen Regierung zu erstellen. Besorgniserregend ist, dass sie bei den ungarischen Parlamentswahlen im April 2014 über 20 Prozent der Stimmen erhielt und damit zur drittgrößten Partei avancierte.

Bis 2012 war eines ihrer führenden Mitglieder ein knapp dreißigjähriger Politiker, Csanád Szegedi. Szegedi war der aufsteigende Stern in der Bewegung und wurde weithin als ihr künftiger Führer gesehen. Bis zu einem Tag im Jahr 2012. An diesem Tag entdeckte Szegedi, dass er Jude war.

Einige Jobbik-Mitglieder wollten seinen Aufstieg stoppen und untersuchten seinen familiären Hintergrund, um zu sehen, ob sie nicht etwas fänden, das ihm schaden könnte. Dabei stellte sich heraus, dass seine Großmutter mütterlicherseits eine jüdische Überlebende von Auschwitz war. Ebenso sein Großvater mütterlicherseits. Die Hälfte von Szegedis Familie wurde während des Holocausts umgebracht.

Szegedis Gegner begannen, Informationen über seine jüdische Abstammung im Internet zu verbreiten. Bald entdeckte auch Szegedi, was da die Runde machte und er beschloss zu überprüfen, ob die Behauptungen wahr wären. Sie waren es. Nach Auschwitz hatten seine Großeltern, einst orthodoxe Juden, den Entschluss gefasst, völliges Schweigen über ihre Identität zu bewahren. Als seine Mutter 14 Jahre alt war, hatte ihr Vater ihr das „Geheimnis“ anvertraut, aber ihr befohlen, es niemandem zu verraten. Szegedi kannte nun also die Wahrheit über sich selbst.

Szegedi beschloss, aus der Partei auszutreten und mehr über das Judentum zu erfahren. Er wandte sich an den örtlichen Chabad-Rabbiner Slomó Köves, der das Ganze zunächst für einen Scherz hielt. Dennoch sorgte er dafür, dass Szegedi Kurse über das Judentum besuchte und in die Synagoge kam. Anfangs, sagt Szegedi, waren die Leute schockiert. Einige behandelten ihn als „Aussätzigen“. Aber er blieb beharrlich. Heute besucht er die Synagoge, befolgt die Schabbat-Vorschriften, hat Hebräisch gelernt, nennt sich Dovid und unterzog sich 2013 einer Beschneidung (durch einen ultraorthodoxen Mohel).

Als er zum ersten Mal die Wahrheit über seine jüdische Abstammung zugab, sagte einer seiner Freunde in der Jobbik-Partei: „Am besten wäre es, wir würden dich erschießen, damit du als reiner Ungar beerdigt werden kannst.“ Ein anderer forderte ihn auf, sich öffentlich zu entschuldigen. Diese Bemerkung habe ihn dazu gebracht, die Partei zu verlassen. „Ich dachte: Moment mal, ich soll mich dafür entschuldigen, dass meine Familie in Auschwitz ermordet wurde?“[2]

Die Erkenntnis, dass er Jude ist, veränderte nicht nur sein Leben, sondern auch sein Verständnis von der Welt. Heute, so sagt er, liege sein Schwerpunkt als Politiker auf der Verteidigung der Menschenrechte für alle. „Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst, und ich weiß, dass ich es in Zukunft richtig machen muss.“[3]

Die Geschichte von Szegedi ist nicht nur eine Kuriosität. Sie führt uns zum Kern der seltsamen, widersprüchlichen Natur unserer Existenz als moralische Wesen. Was uns zu Menschen macht, ist die Tatsache, dass wir rationale und reflektierende Wesen sind und die Dinge analysieren können. Wir empfinden Anteilnahme und Mitgefühl, und das beginnt schon früh. Selbst neugeborene Babys weinen, wenn sie ein anderes Kind weinen hören. Wir haben Spiegelneuronen im Gehirn, die uns zusammenzucken lassen, wenn wir sehen, wie ein anderer leidet. Der Homo sapiens ist das „moralische Tier“.

Dennoch ist ein Großteil der Menschheitsgeschichte eine Geschichte von Gewalt, Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Korruption, Aggression und Krieg. Auch hat es historisch gesehen keinen großen Unterschied gemacht, ob die Akteure in dieser Geschichte Barbaren oder Bürger einer Hochkultur waren.

Die Griechen der Antike, Meister der Kunst, der Architektur, des Dramas, der Poesie, der Philosophie und der Wissenschaft, haben sich im letzten Viertel des fünften Jahrhunderts vor Christus im Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta völlig verausgabt. Davon haben sie sich nie wieder ganz erholt. Es war das Ende des goldenen Zeitalters Griechenlands. Das Paris des Fin de Siècle und das Wien der 1890er Jahre waren die führenden Zentren der europäischen Zivilisation. Doch sie waren auch weltweit führend im Antisemitismus: Paris mit der Dreyfus-Affäre, Wien mit seinem antisemitischen Bürgermeister Karl Lueger, den Hitler später als sein Vorbild anführte.

Wenn wir gut sind, sind wir beinahe engelsgleich. Sind wir böse, stehen wir auf einer niedrigeren Stufe als die Tiere. Was macht uns zu moralischen Wesen? Und was bringt den Menschen trotz allem dazu, so unmenschlich zu sein?

Platon dachte, dass Tugend und Wissen eins sind: Wenn wir wissen, dass etwas falsch ist, werden wir es nicht tun. Alles Laster ist das Ergebnis von Unwissenheit. Lehre die Menschen das Wahre, das Gute und das Schöne, und sie werden sich gut verhalten. Aristoteles hingegen vertrat die Ansicht, dass Tugend eine Gewohnheit sei, die man in der Kindheit erlernt, bis sie Teil des Charakters wird.

David Hume und Adam Smith, zwei intellektuelle Größen der schottischen Aufklärung, vertraten die Ansicht, dass die Moral sich aus einer emotionalen Regung ableitete: dem Gefühl zusammenzugehören. Hume sagte, die bemerkenswerteste Eigenschaft der menschlichen Natur sei die „Neigung, mit anderen zu sympathisieren“.[4] Adam Smith begann seine Theorie der ethischen Gefühle mit den Worten: „Wie egoistisch der Mensch auch sein mag, es gibt offensichtlich einige Prinzipien in seiner Natur, die ihn am Glück anderer teilhaben lassen und ihr Glück für ihn notwendig machen, obwohl er nichts davon hat, außer der Freude, es zu sehen.“[5] Immanuel Kant, der herausragende Rationalist, glaubte, dass die Rationalität selbst die Quelle der Moral sei. Ein moralisches Prinzip sei ein Grundsatz, den man bereit ist, allen Menschen vorzugeben. Daher kann zum Beispiel das Lügen nicht moralisch sein, weil man nicht will, dass andere einen belügen.

Alle fünf Betrachtungsweisen beinhalten etwas Wahres, und wir können der rabbinischen Literatur ähnliche Ansichten entnehmen. Im Geiste Platons sprachen die Weisen vom Tinok schenischba, von jemandem, der Unrecht tut, weil er oder sie nicht dazu erzogen wurde, zu wissen, was richtig ist.[6] Maimonides war wie Aristoteles der Meinung, dass Tugend aus wiederholter Übung entsteht. Die Halacha schafft Gewohnheiten des Herzens. Die Rabbiner sagten, dass die Engel der Nächstenliebe und Wohltätigkeit für die Erschaffung des Menschen plädierten, weil wir von Natur aus für andere mitfühlen, wie Hume und Smith argumentierten. Kants Prinzip ähnelt dem, was die Weisen Sewara, „Vernunft“, nannten.

Aber diese Erkenntnisse dienen nur dazu, die Frage zuzuspitzen: Wenn Wissen, Gefühle und Vernunft uns dazu bringen, moralisch zu sein, warum hassen, verletzen und töten die Menschen dann? Eine vollständige Antwort würde mehr als ein ganzes Leben in Anspruch nehmen, aber die kurze Antwort ist schlicht und einfach: Wir sind Stammestiere. Wir schließen uns in Gruppen zusammen. Die Moral ist sowohl Ursache als auch Folge dieser Tatsache. Gegenüber Menschen, mit denen wir verwandt sind oder uns verwandt fühlen, sind wir zu Altruismus fähig. Aber gegenüber Fremden empfinden wir Angst, und diese Angst kann uns in Monster verwandeln.

Moral bindet und blendet, wie Jonathan Haidt es formuliert hat.[7] Sie bindet uns an andere in einem Band des gegenseitigen Altruismus. Aber sie macht uns auch blind für die Menschlichkeit derer, die außerhalb dieses Bandes stehen. Sie eint und trennt. Sie trennt, weil sie eint. Moral verwandelt das „Ich“ des Eigeninteresses in das „Wir“ des Gemeinwohls. Aber gerade der Akt der Schaffung eines „Wir“ bewirkt zugleich ein „Jene“, das meint Menschen, die nicht so sind wie wir. Selbst die universalistischsten Religionen, die auf den Grundsätzen der Liebe und des Mitgefühls beruhen, haben diejenigen, die nicht ihrem Glauben angehören, oft als Satan, als Ungläubige, als Antichristen, als Kinder der Finsternis, als Unerlöste betrachtet. Große Gruppen ihrer Anhänger haben im Namen Gottes unaussprechliche Brutalitäten begangen.

Weder das platonische Wissen noch der moralische Sinn von Adam Smith noch die kantische Vernunft haben das Herz der Finsternis im Menschen zu heilen vermocht. Aber da leuchten zwei Sätze aus unserer Parascha auf, gleich der Sonne, die sich hinter finsteren Wolken Bahn bricht:

Ihr dürft den Fremden nicht misshandeln noch unterdrücken. Denkt daran, dass ihr selbst einmal Fremde waret im Land Ägypten (Exod. 22:20).

Einen Fremden sollst du nicht unterdrücken. Ihr wisst, wie es einem Fremden zumute ist, denn Fremde waret ihr selbst einmal im Land Ägypten (Exod. 23:9).

Die großen Verbrechen der Menschheit wurden gegen den Fremden, den Außenseiter, den Andersartigen begangen. Die Menschlichkeit des Fremden anzuerkennen, dies war in den meisten Kulturen eine historische Schwachstelle. Die Griechen sahen Nicht-Griechen als Barbaren. Die Deutschen nannten Juden Ungeziefer, Läuse, ein Krebsgeschwür im Körper der Nation. In Ruanda nannten die Hutus die Tutsi Inyenzi – Kakerlaken. Wenn man andere entmenschlicht, werden uns alle moralischen Kräfte der Welt nicht vor Bösem bewahren. Das Wissen wird zum Schweigen gebracht, die Gefühle betäubt, die Vernunft entstellt. Die Nazis haben sich selbst (und andere) davon überzeugt, dass sie mit der Vernichtung der Juden einen moralischen Dienst für die arische Rasse leisten.[8] Selbstmordattentäter sind davon überzeugt, dass sie für die alles überragende Ehre Gottes handeln.[9] Es gibt so etwas wie das uneigennützige Böse.

Das macht diese beiden Gebote so bedeutsam. Immer wieder betont die Tora diesen Punkt: Die Rabbiner lehrten, dass das Gebot, den Fremden zu lieben, sechsunddreißig Mal in der Tora erscheint. Das jüdische Gesetz konfrontiert uns hier direkt mit der Tatsache, dass die Fürsorge für den Fremden nicht etwas ist, bei dem wir uns auf unsere normalen moralischen Ressourcen wie Kenntnis, Einfühlungsvermögen und Vernunft verlassen können. Normalerweise können wir das, aber in einer hochstressigen Situation, wenn wir unsere Gruppe bedroht sehen, können wir das nicht. Gerade die Neigungen, die das Beste in uns hervorbringen – unsere genetische Veranlagung, Opfer zum Wohle von Freunden und Verwandten zu bringen -, können auch das Schlimmste in uns hervorbringen, wenn wir uns vor dem Fremden fürchten. Wir sind Stammestiere und fühlen uns leicht von den Mitgliedern eines anderen Stammes bedroht.

Beachten Sie, dass diese Gebote kurz nach dem Exodus gegeben werden. Ihnen liegt ein sehr radikaler Gedanke zugrunde. Die Sorge um den Fremden ist der Grund, warum die Israeliten Exil und Sklaverei erfahren mussten, bevor sie in das Gelobte Land einziehen und ihre eigene Gesellschaft und ihren eigenen Staat aufbauen konnten. Ihr werdet euch nicht um den Fremden kümmern, impliziert Gott, bis ihr selbst in euren Knochen und Sehnen wisst, wie es ist, ein Fremder zu sein. Und damit ihr das nicht vergesst, habe ich euch bereits befohlen, euch selbst und eure Kinder jedes Jahr zum Pessach-Fest an den Geschmack des Leids und der Bitterkeit zu erinnern. Diejenigen, die vergessen, wie es sich anfühlt, ein Fremder zu sein, kommen schließlich dazu, Fremde zu unterdrücken, und wenn die Kinder Abrahams Fremde unterdrücken, warum habe ich sie dann zu meinen Bundespartnern gemacht?

Einfühlungsvermögen, Sympathie, Wissen und Vernunft reichen normalerweise aus, damit wir mit anderen in Frieden leben können. Aber nicht in schweren Zeiten. Serben, Kroaten und Muslime haben in Bosnien jahrelang friedlich zusammengelebt. Ebenso die Hutus und Tutsi in Ruanda. Das Problem entsteht in Zeiten des Wandels und der Störung, wenn die Menschen ängstlich sind und sich fürchten. Deshalb sind außergewöhnliche Verteidigungsmaßnahmen notwendig, und deshalb spricht die Tora von Erinnerung und Geschichte – Dinge, die den Kern unserer Identität ausmachen. Wir müssen uns daran erinnern, dass wir einst auf der anderen Seite der Gleichung standen. Wir waren einst Fremde: die Unterdrückten, die Opfer. Die Erinnerung an die jüdische Vergangenheit zwingt uns zu einem Rollentausch. Inmitten der Freiheit müssen wir uns stets vor Augen halten, wie es sich anfühlt, ein Sklave zu sein.

Was Csanád, jetzt Dovid, Szegedi, widerfuhr, war genau das: ein Rollentausch. Er war ein Hasser, der herausfand, dass er zu den Gehassten gehörte. Was ihn vom Antisemitismus heilte, war die rollenverkehrende Entdeckung, dass er Jude war. Das war für ihn eine lebensverändernde Entdeckung. Die Tora sagt uns, dass die Erfahrung unserer Vorfahren in Ägypten ebenfalls lebensverändernd sein sollte: Nachdem wir als Fremde gelebt und gelitten hatten, wurden wir zu dem Volk, das den Auftrag hat, sich um Fremde sorgen.

Der beste Weg, Antisemitismus zu heilen, ist, die Menschen erfahren zu lassen, wie es sich anfühlt, Jude zu sein. Die beste Art, Fremdenfeindlichkeit zu heilen, ist, sich daran zu erinnern, dass auch wir – aus der Perspektive eines anderen – Fremde sind. Die Erinnerung und der Rollentausch sind die mächtigsten Mittel, die wir haben, um die Dunkelheit zu heilen, die manchmal die menschliche Seele verdunkelt.

[1] Marcin Goettig und Christian Lowe, Special Report: From Hungary, Far-Right Party Spreads Ideology, Tactics (Reuters, Zugriff am 22. Dezember 2015),

http://www.reuters.com/article/us-europe-farright-special-report-idUSBREA380IU20140409#PUagU6ZvCiQtZgD8.99.

[2] Ofer Aderet, Former Anti-Semitic Hungarian Leader Now Keeps Shabbat (Haaretz, 21. Oktober 2013).

[3] Dale Hurd, Crisis of Conscience: Antisemite Learns He’s a Jew (Christian Broadcasting Network, 6. Dezember 2013), http://www.cbn.com/cbnnews/world/2013/August/Crisis-of-Conscience-Anti-Semite-Learns-Hes-a-Jew/.

[4] Of Pride and Humility, Teil I., Abschnitt XI, T 2.1.11.2. 112

[5] Theorie der ethischen Gefühle (Meiner Verlag, 2021).

[6] Siehe Schabbat 68b; Maimonides, Mischne Tora, Hilchot Mamrim 3:3. Dies gilt sicherlich für rituelle Gesetze; ob es auch für moralische Gesetze gilt, mag dahingestellt sein.

[7] Jonathan Haidt, The Righteous Mind: Why Good People Are Divided by Politics and Religion (New York, Pantheon, 2012).

[8] Siehe Claudia Koonz, The Nazi Conscience (Cambridge, Massachusetts, Belknap, 2003).

[9] Siehe Scott Atran, Talking to the Enemy: Faith, Brotherhood, and the (Un)Making of Terrorists (New York, Ecco, 2010). Der klassische Text ist Eric Hoffer, The True Believer: Thoughts on the Nature of Mass Movements (New York, Harper and Row, 1951).

  1. Glauben Sie, dass der Mensch von Natur aus gut, schlecht oder keines von beiden ist?
  2. Wenn die Zugehörigkeit zu einer engen Gemeinschaft (einem „Stamm“) oft zu einem Mangel an Empathie für Fremde führt, sollten wir dann nicht darauf hinarbeiten, Stammeszugehörigkeiten zu beenden?
  3. Wenn die Tora uns lehrt, uns um „den Fremden“ zu kümmern, warum hat es dann Ihrer Meinung nach im Laufe der Geschichte so viel Verfolgung gegeben?

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