Es gibt einen Vers, der uns so vertraut ist, dass wir nicht oft innehalten, um uns seine Bedeutung ins Bewusstsein zu rufen. Es ist der Satz aus dem ersten Abschnitt des Sch’mas: „Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben mit deinem ganzem Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Me’od“ (Deut. 6:5). Das letzte Wort wird gewöhnlich mit „Kraft“ oder „Macht“ übersetzt. Raschi aber, der hier dem Midrasch und dem Targum folgt, übersetzt es als mit deinem ganzen „Vermögen“.
Nach dieser Lesart scheint der Vers jedoch etwas unverständlich, zumindest in Bezug auf die Reihenfolge, in der er geschrieben ist. „Mit deiner ganzen Seele“, dies verstanden die Weisen als – wenn es sein muss – „mit deinem Leben“. Es gibt Zeiten, auch wenn wir sie gottlob nur sehr selten durchmachen, in denen uns geboten ist, eher das Leben aufzugeben als eine Sünde oder ein Verbrechen zu begehen. Wenn dem so ist, sollte es selbstverständlich sein, dass wir Gott mit all unserer Habe lieben sollten, das heißt, auch wenn dies große finanzielle Opfer erfordert. Raschi und die Weisen sagen jedoch, dass dieser Satz sich allein auf jene bezieht, „denen ihr Besitz mehr bedeutet als selbst ihr Leben“.
Natürlich ist das Leben wichtiger als Reichtum. Die Weisen wussten aber auch, um es in ihren Worten zu sagen: Adam bahul al Mamono, was meint, dass Menschen seltsame, übereilte, unüberlegte und irrationale Dinge tun, wenn es um Geld geht (Schabbat 117b). Finanzieller Gewinn kann eine große Versuchung sein und uns zu Handlungen verleiten, die anderen und letztlich uns selbst schaden. Wenn es also um finanzielle Angelegenheiten geht, vor allem um den Umgang mit öffentlichen Geldern, darf es keinen Raum für Versuchungen geben und keinen für Zweifel, ob die Mittel auch tatsächlich für den Zweck verwendet wurden, für den sie gespendet wurden. Gewissenhafte Rechnungsprüfung und Transparenz sind unerlässlich. Andernfalls besteht eine subjektives Risiko: ein Maximum an Versuchung, begünstigt durch ein Maximum an Gelegenheiten.
Daher auch enthält der Wochenabschnitt Pekudej eine ausführliche Beschreibung der Verwendung der Spenden für den Bau des Mischkan:
Dies sind die Berechnungen der Materialien, die für das Stiftzelt, die Ruhestätte des Gesetzes, verwendet wurden; die auf Moses’ Befehl hin durch die Leviten aufgezeichnet wurden, unter der Aufsicht des Priesters Itamar, des Sohnes Aarons (Exod. 38:21).
Im weiteren Verlauf des Textes werden die gesammelten Mengen an Gold, Silber und Bronze und ihr Verwendungszweck genau aufgelistet. Warum hat Moses dies getan? Ein Midrasch gibt eine Antwort:
„Sie starrten Moses nach“ (Exod. 33:8) – Die Menschen kritisierten Moses. Einer sagte zu einem anderen: „Sieh dir diesen Hals an. Sieh dir diese Beine an. Moses isst und trinkt, was uns gehört. Alles, was er hat, gehört uns.“ Der andere antwortete: „Ein Mann, der für die Arbeit des Heiligtums verantwortlich ist – was erwartet ihr? Dass er nicht reich wird?“ Als er das hörte, antwortete Moses: „Bei eurem Leben, sobald das Heiligtum fertiggestellt ist, werde ich euch die Bilanz vorlegen.“[1]
Moses gab eine detaillierte Abrechnung, um nicht in den Verdacht zu geraten, er habe sich einen Teil der gespendeten Gelder persönlich angeeignet. Man beachte die Betonung, dass die Abrechnung nicht von Moses selbst vorgenommen wurde, sondern „durch die Leviten unter der Aufsicht von Itamar“, also von unabhängigen Rechnungsprüfern.
Im Text selbst gibt es keinen Hinweis auf diese Anschuldigungen, aber der Midrasch könnte sich auf die Bemerkung stützen, die Moses während des Aufstands von Korach machte:
Ich habe ihnen auch nicht einen einzigen Esel weggenommen, und ich habe keinem von ihnen Unrecht getan (Num. 16:15).
Der Vorwurf der Korruption und der persönlichen Bereicherung wird oft gegen führende Persönlichkeiten erhoben, mit oder ohne Rechtfertigung. Man könnte meinen, dass Gott ja alles sieht, was wir tun, und dass dies ausreicht, um uns vor Fehlverhalten zu schützen. Doch das Judentum sieht das nicht so. Der Talmud berichtet von einer Szene am Sterbebett des Rabban Jochanan ben Zakkai, als der Meister von seinen Jüngern umgeben war:
Sie sagten zu ihm: „Unser Meister, segne uns.“ Er sagte zu ihnen: „Möge es Gottes Wille sein, dass die Furcht des Himmels genauso über euch ist wie die Furcht vor Fleisch und Blut.“ Seine Jünger fragten: „Ist das alles?“ Er antwortete: „Wenn ihr doch nur eine solche Furcht hättet! Ihr könnt selbst sehen, wie wahr das ist, was ich sage: Wenn ein Mensch im Begriff ist, eine Übertretung zu begehen, sagt er: ,Ich hoffe, niemand wird mich sehen‘“ (Berachot 28b).
Wenn Menschen eine Sünde begehen, sorgen sie sich, dass andere Menschen sie dabei beobachten könnten, und vergessen, dass Gott sie ganz bestimmt sieht. Die Versuchung vernebelt das Gehirn, und niemand sollte glauben, er sei dagegen immun.
Eine spätere Stelle im Tanach scheint darauf hinzuweisen, dass Moses’ Abrechnung nicht unbedingt notwendig war. Im Buch der Könige wird eine Episode während der Herrschaft von König Jehoasch erzählt, als Geld für die Restaurierung des Tempels gesammelt wurde:
Sie verlangten keine Rechnungslegung von jenen, denen sie das Geld für die Bezahlung der Arbeiter gaben, denn sie handelten in völliger Redlichkeit (II Könige 12:16).
Moses, ein Mann von vollkommener Aufrichtigkeit, könnte also „über die strengen Anforderungen des Gesetzes hinaus“ gehandelt haben.[2]
Gerade die Tatsache, dass Moses das, was er tat, nicht hätte tun müssen, verleiht der Passage ihre Kraft. Wenn es um öffentliche Gelder geht, muss es Transparenz und Rechenschaftspflicht geben, auch wenn die beteiligten Personen von tadellosem Ruf sind. Menschen in Vertrauenspositionen müssen von moralischer Integrität sein und so auch wahrgenommen werden. Jitro, der Schwiegervater von Moses, hatte dies auch schon Moses ans Herz gelegt, als er ihn anwies, Untergebene zu ernennen, die ihm bei der Führung des Volkes helfen sollten. Sie seien, so sagte er, „Männer, die Gott fürchten, vertrauenswürdige Männer, die unehrlichen Gewinn hassen“ (Exod. 18:21).
Ohne einen guten Ruf, der für Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit steht, können Richter nicht dafür Sorge tragen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Dieser allgemeine Grundsatz wurde von den Weisen aus der Begebenheit im Buche Numeri abgeleitet, als die Stämme Ruben und Gad den Wunsch äußerten, sich auf der anderen Seite des Jordans niederzulassen, wo das Land gute Weidegründe für ihr Vieh bot (Num. 32:1-33). Moses antwortete ihnen, dass sie damit den Rest des Volkes demoralisieren würden. Sie würden den Eindruck erwecken, als wären sie nicht bereit, den Jordan zu überqueren und ihren Brüdern in ihrem Kampf um die Eroberung des Landes beizustehen.
Die Stämme Ruben und Gad machten deutlich, dass sie bereit waren, in der vordersten Reihe der Truppen zu stehen und nicht auf die andere Seite des Jordans zurückzukehren, bis das Land nicht vollständig erobert wäre. Moses akzeptierte den Vorschlag und sagte, dass sie, so sie Wort hielten, „vor Gott und vor Israel rein [wihejitem nekijim] sein würden“ (Num. 32:22). Dieser Satz ging als Grundsatz in das jüdische Recht ein: „Man muss sich sowohl vor seinen Mitmenschen als auch vor Gott rechtfertigen.“[3] Es reicht nicht aus, das Richtige zu tun. Es muss auch von anderen so gesehen werden, vor allem dann, wenn es Raum für Gerüchte und Verdächtigungen gibt.
In der frühen rabbinischen Literatur finden sich mehrere Belege für die Anwendung dieser Regel. Zum Beispiel, wenn Leute kamen, um Münzen für Opfer aus der Schekel-Kammer im Tempel zu holen, wo das Geld aufbewahrt wurde:
Sie betraten die Kammer nicht mit einem gesäumten Mantel oder Schuhen oder Sandalen oder Tefilin oder einem Amulett, damit die Leute nicht, wenn er arm wurde, sagen könnten, er sei wegen einem in der Kammer begangenen Vergehen verarmt, oder wenn er reich wurde, sagen könnten, er sei durch eine Veruntreuung in der Kammer reich geworden. Denn es ist die Pflicht eines Menschen, vor den Menschen wie vor Gott frei von Schuld zu sein, wie es heißt: „Und sei rein vor Gott und vor Israel“ (Num. 32:22). Und so heißt es auch: „So wirst du Gunst und Wohlgefallen finden vor Gott und den Menschen“ (Sprüche 3:4).[4]
Jenen, die die Kammer betraten, war es untersagt, irgendwelche Kleidungsstücke zu tragen, in denen sie Münzen hätten verstecken und stehlen können. Wenn die Aufseher der Wohltätigkeitsorganisation Geld übrig hatten, durften sie auch keine Kupfer- gegen Silbermünzen aus ihrem eigenen Geld tauschen: Sie mussten den Tausch bei einem Dritten vornehmen. Aufseher, die für eine Suppenküche zuständig waren, durften keine überschüssigen Lebensmittel kaufen, wenn es keine armen Menschen gab, an die man sie hätte verteilen können. Überschüsse mussten an andere verkauft werden, um nicht den Verdacht zu erwecken, dass die Aufseher der Wohltätigkeitsorganisation von öffentlichen Geldern profitieren würden (Pessachim 13a).
Der Shulchan Aruch schreibt vor, dass das Sammeln von Almosen immer von mindestens zwei Personen unternommen werden muss, damit jeder sehen kann, was der andere tut.[5] Es gibt eine Meinungsverschiedenheit zwischen Rabbi Josef Karo und Rabbi Moses Isserles über die Notwendigkeit, detaillierte Abrechnungen zu erstellen. Rabbi Josef Karo stützt sich bei seiner Rechtsentscheidung auf die Stelle in II Könige – „Sie verlangten keine Rechnungslegung von jenen, denen sie das Geld für die Bezahlung der Arbeiter gaben, denn sie handelten in völliger Redlichkeit“ (II Könige 12:16) -, dass von Menschen mit unangefochtener Ehrenhaftigkeit keine formelle Rechenschaft verlangt werde. Rabbi Moses Isserles hingegen sagt, dass es richtig sei, dies zu tun, und zwar aufgrund des Grundsatzes: „Sei rein vor Gott und vor Israel.“[6]
Vertrauen ist im öffentlichen Leben von entscheidender Bedeutung: Eine Nation, die ihre Führer der Korruption verdächtigt, kann nicht als freie, gerechte und offene Gesellschaft funktionieren. Eine gute Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass die öffentliche Führung als eine Form des Dienstes und nicht als ein Mittel zur Erlangung von Macht betrachtet wird, die nur allzu leicht missbraucht werden kann. Der Tanach ist ein nachhaltiges Tutorial über die Bedeutung hoher Standards im öffentlichen Leben. Die Propheten waren die ersten Gesellschaftskritiker der Welt, die von Gott beauftragt wurden, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen und korrupte Führer anzufechten. Elias Herausforderung an König Ahab und die Proteste von Amos, Hosea, Jesaja und Jeremia gegen die unethischen Praktiken ihrer Zeit sind klassische Texte in dieser Tradition, die für alle Zeiten die Ideale von Gleichheit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Integrität begründen. Eine freie Gesellschaft baut auf moralischen Grundlagen auf, und diese müssen unerschütterlich sein.
Das persönliche Beispiel von Moses, der über die Gelder, die für das erste gemeinsame Projekt des jüdischen Volkes gesammelt wurden, Rechenschaft ablegte, setzte einen wichtigen Präzedenzfall für alle Zeiten.
[1] Tanchuma, Buber, Pekudej, 4.
[2] Ein Kerngedanke im jüdischen Recht (siehe zum Beispiel Berachot 7a, 45b, Bawa Kama 99b), der „Mehrleistung“ bedeutet, das heißt im positiven Sinne mehr zu tun, als das Gesetz verlangt.
[3] Mischna, Schekalim 3:2.
[4] Ibid.
[5] Schulchan Aruch, Jore De’a 257:1.
[6] Ibid., 257:2.
- Zeigen diese Diskussionen, dass die Menschen dazu neigen, gegenseitig misstrauischer zu sein, als sie es sein sollten?
- Wie könnte diese alternative Übersetzung des Wortes Me’od im Sch’ma Ihre Kawana beim Rezitieren der Tefila beeinflussen?
- Sagt der Gedanke, dass Moses mehr getan hat, als das Gesetz vorschreibt, Ihnen mehr über seine eigene Ethik oder über die Ethik der Kinder Israels?
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