Das seltsamste und dramatischste Element des Opferdienstes am Jom Kippur, das in Acharej Mot (Lev. 16:7-22) beschrieben wird, ist das Ritual der beiden Ziegenböcke, von denen einer als Opfer dargebracht und der andere in die Wüste „zum Asasel“ geschickt wurde. Sie waren in jeder Hinsicht nicht voneinander zu unterscheiden: Ihre Auswahl erfolgte so, dass sie in Größe und Aussehen möglichst ähnlich waren. Sie wurden vor den Hohepriester gebracht und Lose wurden gezogen, wobei eines die Worte „für Gott“ und das andere „zum Asasel“ trug. Der Bock, auf den das Los „für Gott“ fiel, wurde als Opfer dargebracht. Über dem anderen sprach der Hohepriester die Beichte für die Sünden des Volkes. Daraufhin wurde der Bock in die Wüstenhügel außerhalb Jerusalems gebracht und stürzte dort in den Tod. Der Überlieferung zufolge wurde ein roter Faden an seinen Hörnern befestigt, dessen eine Hälfte entfernt wurde, bevor das Tier weggeschickt wurde. War das Ritual erfolgreich, färbte sich der rote Faden weiß.
Vieles an diesem Ritual ist rätselhaft. Erstens: Was bedeutet „zum Asasel“, wohin der zweite Ziegenbock geschickt wurde? Wird der Name doch nirgendwo sonst in der Heiligen Schrift erwähnt. Hierzu haben sich drei Haupttheorien herausgebildet. Den Weisen und Raschi zufolge bedeutete es „ein steiler, felsiger oder harter Ort“. Mit anderen Worten, es war eine Beschreibung des Bestimmungsortes. Dem einfachen Wortlaut der Tora nach wurde der Bock „in eine verödete Gegend“ (el Erez gesera, Lev. 16:22) geschickt. Nach Ansicht der Weisen bedeutete dies, dass er zu einer steilen Schlucht geführt wurde, wo er zu Tode stürzte. Dies ist, der ersten Erklärung nach, die Bedeutung von Asasel.
Die zweite, von Ibn Esra kryptisch angedeutete und von Nahmanides ausdrücklich angeregte Erklärung ist, dass Asasel der Name eines Geistes oder Dämons war: einer der gefallenen Engel, auf die in Genesis 6:2 Bezug genommen wird, ähnlich dem in der griechischen Mythologie „Pan“ genannten Ziegengeist (latein. „Faunus“). Ein problematischer Gedanke, weshalb Ibn Esra, hier wie in anderen Fällen auch, darauf in Form eines Rätsels anspielte, das nur die Eingeweihten entschlüsseln konnten. Er schreibt:
„Ich werde dir einen Teil des Geheimnisses durch einen Hinweis enthüllen: Im Alter von dreiunddreißig Jahren wirst du es wissen.“
Nahmanides enthüllt das Geheimnis.
Dreiunddreißig Verse später ordnet die Tora an: „Sie sollen keines ihrer Opfer mehr den Ziegengötzen [Se’irim] darbringen, denen sie nachbuhlen“ (Siehe Lev. 17:7).
Asasel ist nach dieser Lesart der Name eines Dämons oder einer feindlichen Macht, mitunter auch Satan oder Samael genannt. Den Israeliten war es kategorisch verboten, eine solche Kraft zu verehren. Tatsächlich ist der Glaube, dass im Universum Mächte am Werk sind, die sich von Gott unterscheiden oder ihm gar feindlich gegenüberstehen, mit dem Monotheismus des Judentums unvereinbar. Und doch waren unter den Weisen einige der Ansicht, dass es unter dem himmlischen Gefolge auch negative Kräfte gibt: So klagt der Satan die Menschen an oder verleitet sie zur Sünde. Der Bock, der in die Wüste zum Asasel geschickt wurde, war eine Möglichkeit, solche Kräfte zu versöhnen oder zu besänftigen, damit die Gebete Israels sozusagen ohne Gegenstimmen zum Himmel aufsteigen konnten. Dieses Verständnis des Ritus ähnelt dem Spruch der Weisen, dass wir an Rosch Haschana das Schofar in zwei Zyklen blasen, „um Satan zu verwirren“ (Rosch Haschana 16b).
Der dritten und einfachsten Deutung nach ist „Asasel“ ein zusammengesetztes Substantiv, das „die Ziege [Ehs], die weggeschickt wurde [asal]“ bedeutet. Dies führte dazu, dass ein neues Wort in die englische Sprache aufgenommen wurde. Im Jahr 1530 übersetzte William Tyndale die hebräische Bibel erstmalig ins Englische, eine damals illegale Handlung, für die er mit seinem Leben bezahlte. Als er eine Entsprechung für „Asasel“ suchte, entschied er sich für the escapegoat, also die Ziege, die weggeschickt und freigelassen wurde. Im Laufe der Zeit wurde der erste Buchstabe weggelassen, und das Wort scapegoat war geboren.
Die eigentliche Frage ist jedoch: Worum ging es bei dem Ritual überhaupt? War es doch einzigartig. Sünd- und Schuldopfer sind vertraute Bestandteile der Tora und ein normaler Teil des Tempeldienstes. Der Gottesdienst am Jom Kippur war in einer Hinsicht anders: In der Regel wurde die Sünde über dem zu opfernden Tier gebeichtet. Am Jom Kippur bekannte der Hohepriester die Sünden des Volkes über dem Tier, das nicht geopfert wurde, dem Sündenbock, der weggeschickt wurde und „all ihre Schuld auf sich trug“ (Lev. 16:21-22).
Die einfachste und überzeugendste Antwort gibt Maimonides in seinem Führer der Unschlüssigen:
Es besteht kein Zweifel, dass Sünden nicht wie eine Last getragen und von der Schulter des einen genommen werden können, um auf die eines anderen gelegt zu werden. So sind diese Zeremonien symbolischen Charakters und dienen dazu, den Menschen eine bestimmte Vorstellung zu vermitteln und sie zur Buße zu bewegen – als würden wir sagen wollen, wir haben uns von unseren früheren Taten befreit, sie hinter uns geworfen und uns so weit wie möglich von ihnen distanziert.[1]
Die Sühne erfordert ein Ritual: eine dramatische Darstellung der Beseitigung der Sünde und der Reinwaschung der Vergangenheit. Das liegt auf der Hand. Maimonides erklärt jedoch nicht, warum Jom Kippur eines Rituals bedurfte, das an anderen Tagen des Jahres, an denen Sünd- oder Schuldopfer dargebracht wurden, nicht erforderlich war. Warum genügte nicht der erste Bock, auf den das Los „für Gott“ fiel und der als Sündopfer dargebracht wurde (Lev. 16:9)?
Des Rätsels Lösung liegt im doppelten Charakter dieses Tages. Die Tora sagt:
Dies soll euch ein ewiges Gesetz sein: Am zehnten Tag des siebten Monats sollt ihr fasten und keine Arbeit verrichten… Denn an diesem Tag sollen alle eure Sünden gesühnt [jechaper] werden, so dass ihr gereinigt [letaher] werdet. Vor Gott werdet ihr von all euren Sünden gereinigt werden (Lev. 16:29-30).
Der Jom Kippur umfasste zwei ganz unterschiedliche Vorgänge. Zunächst gab es die Kapara, Sühne. Dies ist die reguläre Funktion eines Sündopfers. Zweitens gab es Tahara, Reinigung, etwas, das normalerweise in einem ganz anderen Zusammenhang geschieht, nämlich bei der Beseitigung von Tuma, ritueller Unreinheit, die verschiedene Ursachen haben kann: beispielsweise der Kontakt mit einem toten Körper, Hautkrankheiten oder nächtlicher Ausfluss. Sühne hat mit Schuld zu tun, Reinigung mit Verunreinigung oder Verschmutzung. Normalerweise[2] sind das zwei verschiedene Welten. Am Jom Kippur wurden sie jedoch miteinander verknüpft. Warum?
Wie wir im vorangegangenen Wochenabschnitt Mezora besprochen haben, verdanken wir Anthropologen wie Ruth Benedict die Unterscheidung zwischen Schamkulturen und Schuldkulturen.[3] Scham ist ein soziales Phänomen. Es beschreibt unsere Empfindung, wenn unser Fehlverhalten anderen gegenüber offengelegt wird. Es kann sogar etwas sein, das wir empfinden, wenn wir uns nur vorstellen, dass andere Menschen wissen oder sehen könnten, was wir getan haben. Scham ist das Gefühl, ertappt zu werden, und unser erster Instinkt ist es, uns zu verstecken. Genau das taten Adam und Eva im Garten Eden, nachdem sie von der verbotenen Frucht gegessen hatten. Sie schämten sich ihrer Nacktheit und versteckten sich.
Schuldgefühle sind ein Phänomen persönlicher Natur. Sie haben nichts damit zu tun, was andere sagen würden, wenn sie von unseren Taten wüssten, sondern mit dem, was wir uns selbst sagen. Schuld ist die Stimme des Gewissens, und ihr können wir nicht entlaufen. Womöglich kann man die Scham vermeiden, indem man sich versteckt oder nicht entdeckt wird, aber der Schuld kann man nicht entkommen. Schuldgefühl ist Selbsterkenntnis.
Es gibt einen weiteren Unterschied, der, wenn man ihn einmal verstanden hat, erklärt, warum das Judentum in erster Linie eine Schuld- und keine Schamkultur ist. Scham bezieht sich auf die Person. Schuld haftet hingegen an der Tat. Es ist fast unmöglich, die Scham loszuwerden, ist man einmal öffentlich in Ungnade gefallen. Sie ist wie ein unauslöschlicher Fleck auf der Haut, das Zeichen des Kains. Shakespeare lässt Lady Macbeth nach ihrem Verbrechen ausrufen: „Werden diese Hände nie mehr rein sein?“ In Schamkulturen neigen Übeltäter dazu, sich entweder zu verstecken oder ins Exil zu gehen, wo niemand ihre Vergangenheit kennt. Oder sie begehen Selbstmord. Stückeschreiber in diesen Kulturen lassen solche Figuren sterben, gibt es doch keine Möglichkeit der Wiedergutmachung.
Im Verständnis der Schuld wird hingegen klar zwischen der Tat und der Person des Täters unterschieden: Die Tat war falsch, aber der Handelnde bleibt im Prinzip unversehrt. Deshalb kann die Schuld durch Bekenntnis, Reue und Wiedergutmachung beseitigt, „gesühnt“ werden. „Hasse nicht den Sünder, sondern die Sünde“, lautet das Grundaxiom einer Schuldkultur.
Normalerweise geht es bei Sünd- und Schuldopfern, wie die Namen schon implizieren, um Schuld. Sie sühnen. Aber am Jom Kippur geht es nicht nur um unsere Sünden als Individuen. Er konfrontiert uns auch mit unseren Sünden als Gemeinschaft, in der wir einander in gegenseitiger Verantwortung verbunden sind. Mit anderen Worten: Es geht um die soziale wie auch um die persönliche Dimension des Fehlverhaltens. An Jom Kippur geht es sowohl um Scham als auch um Schuld. Daher muss es sowohl eine Reinigung (die Beseitigung des Makels) als auch eine Sühne geben.
Die Psychologie der Scham ist eine ganz andere als die der Schuld. Wir können uns von Schuld befreien, indem wir Vergebung erlangen – und Vergebung kann nur von dem Objekt unserer Verfehlung gewährt werden, weshalb am Jom Kippur nur für Vergehen gegen Gott gesühnt wird. Sogar Gott vergibt nicht Sünden, die wir gegen unsere Mitmenschen begangen haben – ja, Er kann sie nicht vergeben -, solange sie uns nicht selbst verziehen haben.
Scham kann nicht durch Vergebung beseitigt werden. Das Opfer unseres Verbrechens mag uns vergeben haben, aber wir fühlen uns immer noch beschmutzt durch das Wissen, dass unser Name entehrt, unser Ruf geschädigt, unser Ansehen geschmälert wurde. Wir fühlen immer noch das Stigma, die Schande, die Erniedrigung. Deshalb bedurfte es einer äußerst kraftvollen und dramatischen Zeremonie, bei der die Menschen spüren und symbolisch sehen konnten, wie ihre Sünden in die Wüste, ins Niemandsland, weggetragen wurden. Eine ähnliche Zeremonie fand statt, als ein Aussätziger gereinigt wurde. Der Priester nahm zwei Vögel, tötete den einen und ließ den anderen über das offene Feld fliegen (Lev. 14:4-7). Auch hier ging es um Reinigung, nicht um Sühne, und es ging um Scham, nicht um Schuld.
Das Judentum ist eine Religion der Hoffnung, und seine großen Rituale der Umkehr und Versöhnung sind Teil dieser Hoffnung. Wir sind nicht dazu verdammt, auf ewig mit den Fehlern und Irrtümern unserer Vergangenheit zu leben. Das ist der große Unterschied zwischen einer Schuldkultur und einer Schamkultur. Aber auch das Judentum erkennt die Existenz der Scham an. Daher das aufwendige Ritual des Sündenbocks, der die Tuma, die Verunreinigung, die das Zeichen der Scham ist, wegzutragen schien. Es konnte nur am Jom Kippur durchgeführt werden, weil dies der einzige Tag im Jahr ist, an dem jeder, zumindest stellvertretend, an dem Prozess des Bekennens, der Reue, der Sühne und der Reinigung teilnimmt. Wenn eine ganze Gesellschaft ihre Schuld bekennt, kann der Einzelne von seiner Schande befreit werden.
[1] Führer der Unschlüssigen, III, 46
[2] Allerdings gab es auch Ausnahmen. Ein Aussätziger – oder genauer gesagt jemand, der an der Hautkrankheit leidet, die von der Tora als Zara’at bezeichnet wird – musste zusätzlich zu den Reinigungsriten ein Schuldopfer [Ascham] bringen (Lev. 14:12-20).
[3] Ruth Benedict, Chrysantheme und Schwert: Formen der japanischen Kultur (Suhrkamp Verlag, 6. Auflage, 2006).
- Warum sind symbolische Rituale wichtig? Was bewirken sie?
- Wenn das Judentum eine „Schuldkultur“ ist, warum beschäftigt es sich dann noch mit Scham?
- Wenn das Ritual die Scham beseitigt, was beseitigt dann die Schuld?
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