Nach den Feiertagen beginnt die Regenzeit. Die Herausforderungen des Alltags kehren zurück
Der Monat Tischri neigt sich dem Ende zu – und nach der langen Reihe der Feiertage müssen wir uns nun wieder den Anforderungen des Alltaglebens stellen. Im jüdischen Kalender ist Cheschwan der zweite Monat – oder der achte Monat, wenn man wie die Bibel davon ausgeht, dass das Jahr mit dem Frühlingsmonat Nissan beginnt.
Der Monat Cheschwan wird in der jüdischen Tradition auch Mar-Cheschwan genannt. Eine der Übersetzungen für »mar« lautet »bitter«. Ob diese Übersetzung aber die einzig richtige ist, wird sich später im Text zeigen. In jedem Fall ist der Herbstmonat Cheschwan in unseren Vorstellungen, und das vor allem in europäischen Breitengraden, ein grauer, nebliger und feuchter Monat.
Es stellt sich nun die Frage, ob die Weisen diesen Monat einfach nur als Zeit der Rückkehr in den Alltag sehen, oder ob der Cheschwan noch mehr Bedeutung für uns bereithält.
TEMPELBAU Im 1. Buch der Könige 6, 37-38 steht: »Im vierten Jahr (bezogen auf die Zeit des Regenten und seiner Regentschaft) im Monat Siv (Ijar) gründeten sie das G’tteshaus. Und im Jahr elf, im Monat Bul, der der achte Monat ist, wurde der Bau beendet.« Hier erfahren wir also, dass der Bau des Tempels in Jerusalem sieben Jahre dauerte, im Monat Ijar begann und im siebten Jahr im Monat Cheschwan, der auch Bul genannt wird, fertiggestellt wurde.
Im Midrasch Tanchuna, Paraschat Noach, Perek 17 steht, dass das Wort Bul vom Wort »Mabul« kommt. Mabul bedeutet auf Hebräisch Flut oder die Sintflut. Der Cheschwan ist der Monat, in dem die Regenzeit beginnt. Dieser Monat war immer auch mit der Befürchtung der Menschen verbunden, dass sich der Regen wieder in eine Art Flut verwandeln könnte und somit eine Bedrohung darstellt. Cheschwan ist auf den ersten Blick also ein Monat, der mit Angst verbunden und mit einem negativen Potenzial behaftet ist.
IMAGE Selbstverständlich war diese Assoziation zum Cheschwan auch König Salomon bekannt. Gerade deshalb richtete er es so ein, den Tempel genau in diesem Monat fertigstellen zu lassen, um dem Cheschwan seinen schlechten Ruf zu nehmen und ihm ein neues Gesicht zu geben. Der Cheschwan sollte ein Monat der positiven Energie und ein Monat der Hoffnung werden – ein Monat, der uns zusätzlichen Schutz gibt und uns mit G’tt noch stärker verbindet.
Wasser ist für uns alle in erster Linie ein positives Element, ein Symbol des Lebens. Wasser ist jedoch nur in Maßen für uns nützlich. Geht die Wassermenge über ein bestimmtes Limit hinaus, wird Wasser für uns Menschen und alles Leben auf der Erde zur Gefahr.
Im 1. Buch Mose 6,13 steht: »Da sprach G’tt zu Noach: Das Ende aller Wesen ist von mir beschlossen, denn die Erde ist durch sie durch Gewalttat erfüllt; so will ich sie denn mit der Erde verderben.« Zu diesem Vers, insbesondere zu den Worten »denn die Erde ist voller Gewalttat« sagt Raschi: »Ihr Urteil wurde erst wegen des Raubens besiegelt.« Dies entnimmt er aus dem Talmudtraktat Sanhedrin 108a.
GRENZÜBERSCHREITUNGEN Raschi will uns damit sagen, dass der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, genau darin lag, dass geraubt wurde und keine Trennung mehr zwischen Privateigentum und Eigentum der Allgemeinheit existierte. Grenzen wurden überschritten und verschwanden gänzlich, es herrschte Chaos, es gab keinen gegenseitigen Respekt mehr.
Die Grenzüberschreitungen ließen keine gemeinsame Gesellschaftsform mehr zu und machten so das Leben unmöglich.
Gerade deshalb entschied sich G’tt dazu, die gewaltige Kraft, die Sintflut, über die Erde kommen zu lassen.
Diese Strafe ist ein Sinnbild für die schlechten Taten der Menschheit. Die Sintflut ließ auf Erden alles verschwinden, alle Grenzen wurden weggespült, was auch hier zu einen totalen Chaos führte. Um nach diesem Schrecken, den die Flut hinterließ, wieder Ordnung zu schaffen, mussten Grenzen gesetzt werden.
Eine Aufgabe des Tempels war es, die von G’tt gegebene Kraft in eine angemessene Energieform und Richtung umzuwandeln, damit wir als Menschen überhaupt in der Lage sind, diese nutzen zu können. Der Tempel war eine Art Transformator, ein Ort, in dem Energie umgewandelt wurde, damit wir sie nutzen können. Diese Idee finden wir in dem Buch Olat Re’ija des großen und verehrten Rabbiners Awraham Jizchak Kook (1865–1935).
GEBETE Im Monat Cheschwan beginnt man in Eretz Israel mit den Gebeten, in denen man um Regen bittet. In der Diaspora erfolgen diese Gebete erst einen Monat später. Wenn wir G’tt um Regen bitten, dann beten und bitten wir darum, dass das Gute (der Regen) in kleinen Mengen, als kleine Tropfen, kommen möge. Wir bitten um Mengen, die für uns Menschen gut, angemessen und geeignet sind.
Der Effekt unseres Gebets ist der gleiche, den damals der Tempel hatte. Er diente dazu, G’ttes Kraft und Energie angemessen zu erhalten. Wir wünschen uns Wasser, jedoch nur in Maßen: Unser Gebet ist wie eine Membran.
In Jesaja 40,15 heißt es: »… ke mar mi dli …« (übersetzt: … wie Tropfen vom Eimer …). »Mar« hat jedoch hier nicht die Bedeutung von bitter, sondern »Mar« heißt Tropfen. G’tt ist in der Lage, uns einen ganzen Eimer Wasser zu geben. Wir brauchen aber nur einen Tropfen davon, das reicht uns völlig aus.
Der Monat Cheschwan wird auch Marcheschwan genannt: Zuerst kamen uns all die negativen Assoziationen an einen grauen Wintermonat. Und wir dachten, »Mar« könne nur die Bedeutung »bitter« haben. Doch in der Jesaja-Stelle zeigt sich die wahre Antwort: »Mar« bedeutet hier »Tropfen«.
IDEALE Vor den Hohen Feiertagen stehen wir jedes Jahr vor einem Berg von Aufgaben. An den Feiertagen laufen wir dann zur Hochform auf. Wie aber können wir diese Ideale in einen grauen Alltag integrieren, ohne abzusteigen, ohne abzufallen?
Genau auf diese Frage wollte König Salomon eine Antwort geben. Gerade deshalb legte er den Zeitpunkt der Beendigung des Tempelbaus in den Monat Cheschwan. Das gibt uns die Möglichkeit, darüber zu reflektieren, warum die Flut über die Menschheit kam.
Die Antwort war, dass die Menschen Grenzen überschritten haben. Der Monat Cheschwan hat daher die Aufgabe, uns Grenzen aufzuzeigen. Er soll uns dazu bewegen, das hohe Niveau, das wir an den Feiertagen erreicht haben, im Alltag zu halten. Mit derartiger Kraft und Energie werden wir den grauen und winterlichen Alltag dann mit Schwung meistern.
Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 20.10.2014