An der Spitze einer Nation von Individuen
Bamidbar 5781
Das Buch Bamidbar beginnt mit einer Volkszählung der Israeliten. Daher ist dieses Buch auch unter
dem lateinischen Titel „Numeri“ bekannt. Das wirft eine Reihe von Fragen auf: Was verbirgt sich hinter diesem
Akt des Zählens? Und warum gerade hier, am Anfang des Buches? Auch gab es bereits zwei Volkszählungen,
und diese ist die dritte innerhalb eines einzigen Jahres. Eine hätte doch sicher gereicht. Schließlich: Hat das
Zählen etwas mit der Führung des Volkes zu tun?
Beginnen wir mit der Feststellung eines scheinbaren Widerspruchs. Einerseits sagt Raschi, dass der
Akt des Zählens in der Tora eine Geste der Liebe seitens Gottes ist:
Weil er sie (die Kinder Israels) liebt, zählt Gott sie wiederholt. Er zählte sie, als sie im Begriff waren,
Ägypten zu verlassen. Er zählte sie nach der Sünde mit dem Goldenen Kalb, um festzustellen, wie viele
verblieben waren. Und nun, da er im Begriff war, Seine Gegenwart auf ihnen ruhen zu lassen (mit der
Einweihung des Heiligtums), zählte er sie erneut (Raschi, Bamidbar 1:1).
Wenn Gott eine Zählung der Israeliten veranlasst, ist es, um seiner Liebe zu ihnen Ausdruck zu
verleihen.
Andererseits sagt die Tora ausdrücklich, dass eine Volkszählung mit Risiken verbunden ist:
Gott sprach zu Moses: „Wenn du die Zahl der Gemusterten der Israeliten aufnimmst, so soll jeder dem
Ewigen ein Sühnegeld geben, um sein Leben auszulösen, wenn er gezählt wird. Dann wird keine Plage
über sie kommen, wenn du sie musterst“ (Exod. 30:11-12).
Als König David Jahrhunderte später das Volk zählte, entbrannte der göttliche Zorn, und
siebzigtausend Menschen starben.1 Wie kann dies sein, wenn das Zählen doch ein Ausdruck der Liebe ist?
Die Antwort liegt in dem Ausdruck, dessen sich die Tora bedient, um den Akt des Zählens zu
beschreiben: Se’u et Rosch, wörtlich: „erhebet die Köpfe“ (Num. 1:2). Das ist ein seltsamer, umständlicher
Ausdruck. Das biblische Hebräisch kennt viele andere Verben, die „zählen“ bedeuten: limnot, lifkod, lispor,
lachschow. Warum verwendet die Tora nicht diese einfachen Worte für die Volkszählung und wählt
stattdessen den umständlichen Ausdruck „erhebet die Köpfe der Israeliten“?
Die Antwort ist diese: Bei jeder Volkszählung oder jedem Appell gibt es eine Tendenz, sich auf die
Gesamtzahl zu konzentrieren – die Menge, die Masse, die Menschenschar. Hier ist eine Nation von sechzig
Millionen Menschen oder ein Unternehmen mit hunderttausend Mitarbeitern oder ein Sportstadium mit
sechzigtausend Zuschauern! Immer gibt es bei der Summe einer größeren Menschenzahl die Neigung, die
Gruppe oder Nation als Ganzes zu bewerten. Je größer die Summe, desto stärker die Armee, desto beliebter
die Mannschaft und desto erfolgreicher das Unternehmen.
Das Zählen reduziert den Wert des Individuums, indem es den Menschen als Zahl austauschbar macht.
Wenn ein Soldat im Kampf stirbt, nimmt ein anderer seinen Platz ein. Verlässt ein Mitarbeiter die
Organisation, kann ein anderer eingestellt werden, um seinen Job zu erledigen.
Bekanntlich neigt der Einzelne unter der Einwirkung von Menschenmassen dazu, sein unabhängiges
Urteilsvermögen zu verlieren und dem zu folgen, was andere sagen und tun. Wir nennen dies
„Herdenverhalten“, und das steigert sich manchmal zu kollektivem Wahnsinn. Charles Mackay veröffentlichte
1841 seine klassische Studie Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds (Außergewöhnliche
populäre Wahnvorstellungen und der Wahnsinn der Massen), in der er von der „Südseeblase“ berichtet, die
in den 1720er Jahren Tausende von Menschen um ihr Geld brachte, und von der Tulpenmanie in Holland, als
ganze Vermögen für einzelne Tulpenzwiebeln ausgegeben wurden. Den großen Crashs von 1929 und 2008
lag die gleiche Massenpsychologie zugrunde.
Ein weiteres großartiges Werk, Gustav Le Bons Psychologie der Massen (1895), beschreibt, wie
Menschenmengen einen „magnetischen Einfluss“ ausüben, der das Verhalten des Einzelnen in einen
kollektiven „Gruppengeist“ verwandelt. Er drückte es so aus: „Ein Individuum in einer Menge ist gleich einem
Sandkorn inmitten anderer Sandkörner, die der Wind nach Belieben aufwirbelt.“ Der Einzelne verliert sich in
der Anonymität der Masse. Sein Gewissen verstummt, und er verliert sein persönliches
Verantwortungsgefühl.
Menschenmengen sind besonders anfällig für regressives Verhalten, primitive Reaktionen und
instinktives Verhalten. Sie geraten leicht unter den Einfluss von Demagogen, die mit den Ängsten der
Menschen und ihren Opfergefühlen spielen. Solche Anführer, so Le Bon, „lassen sich vor allem aus den Reihen
jener krankhaft nervösen, erregbaren, halb verwirrten, an den Wahnsinn grenzenden Personen rekrutieren“2
- eine bemerkenswerte Vorahnung Hitlers. Es ist kein Zufall, dass Le Bons Werk in Frankreich zu einer Zeit
zunehmenden Antisemitismus und des Dreyfus-Prozesses veröffentlicht wurde.
In diesem Zusammenhang zeigt sich die Bedeutung eines bemerkenswerten Merkmals des Judentums:
sein prinzipielles Beharren – wie keine andere Zivilisation zuvor – auf der Würde und Integrität des
Individuums. Wir glauben, dass jeder Mensch im Ebenbilde und nach dem Gleichnis Gottes erschaffen wurde.
Unsere Weisen lehren, dass jedes Leben gleich einem ganzen Universum ist.3 Maimonides schreibt, dass jeder
Einzelne sich selbst so betrachten sollte, als ob seine nächste Handlung das Schicksal der Welt verändern
könnte.4 Jede abweichende Meinung wird sorgfältig in der Mischna notiert, auch wenn das Gesetz anders
lautet. Jeder Vers der Tora, so sagen die Weisen, erlaubt siebzig Interpretationen. Keine Ansicht, keine Stimme
wird überhört. Das Judentum lässt niemals zu, dass wir unsere Individualität in der Masse verlieren.
Der Talmud erwähnt einen wunderbaren Segensspruch, der gesagt werden soll, wenn man
sechshunderttausend Israeliten an einem Ort versammelt sieht: „Gesegnet bist du, Gott…, der die Geheimnisse
erkennt.“5 Der Talmud erklärt, dass jeder Mensch einzigartig ist. Wir alle unterscheiden uns voneinander
durch unsere Eigenschaften, und auch unsere Gedanken sind Ausdruck unserer Individualität. Nur Gott allein
vermag den Verstand eines jeden Menschen zu ergründen und seine Gedanken zu erfassen. Darauf bezieht
sich der Segen: Selbst in einer riesigen Menschenmenge, in der das menschliche Auge die individuellen
Gesichter Einzelner nicht mehr auszumachen vermag, erkennt uns Gott immer noch als Individuen, nicht als
Teil der Masse.
Dies ist die Bedeutung des Ausdrucks „den Kopf zu erheben“, der im Zusammenhang mit der
Volkszählung gebraucht wird. Gott sagt Moses, dass bei der Zählung eines Volkes die Gefahr besteht, dass sich
der Einzelne unbedeutend fühlt. „Wer bin ich schon? Was kann ich schon ausrichten? Ich bin nur einer von
Millionen, eine bloße Welle im Ozean, ein Sandkorn am Meer, Staub auf der Oberfläche der Unendlichkeit.“
Hingegen sagt Gott zu Moses, er solle die Köpfe der Menschen „erheben“, indem er ihnen zeigt, dass
jeder von ihnen wichtig ist, dass jeder als Individuum zählt. In der Tat wird nach jüdischem Gesetz ein Dawar
Schebeminjan, etwas, das nach seiner Anzahl und nicht nach Gewicht verkauft wird, niemals durch ein
Vielfaches seiner Menge neutralisiert wird. Es behält immer die ihm eigene Bedeutung, welche es auch nicht
in einer Mischung mit tausend oder selbst einer Million anderer verliert.6 Im Judentum muss eine
Volkszählung immer so durchgeführt werden, dass dabei dem Einzelnen signalisiert wird, dass er als
Individuum verstanden und geschätzt wird. Jeder von uns hat Einzigartiges beizutragen. Es gibt da einen
Beitrag, den nur ich leisten kann. Jemandes Kopf zu erheben, bedeutet, ihm Wertschätzung und Anerkennung
zu geben. Es ist eine Geste der Liebe.
Es gibt jedoch einen großen Unterschied zwischen Individualität und Individualismus. Individualität
bedeutet, dass ich ein einzigartiges und geschätztes Mitglied eines Teams bin. Individualismus bedeutet
jedoch, dass ich überhaupt nicht am Team, sondern allein an mir selbst interessiert bin. Der Harvard-Soziologe
Robert Putnam gab diesem Phänomen eine berühmt gewordene Bezeichnung, als er feststellte, dass in den
Vereinigten Staaten mehr Menschen als je zuvor zum Bowling gehen, aber weniger als je zuvor Bowling-Teams
beitreten. Er nannte dieses Phänomen Bowling alone – „alleine Bowlen“.7 MIT-Professorin Sherry Turkle nennt
unser Zeitalter von Twitter, Facebook und elektronischen statt persönlichen Freundschaften alone together –
„zusammen einsam“.8 Das Judentum schätzt Individualität, nicht Individualismus. Wie Hillel sagt: „Wenn ich
nur für mich da bin, was bin ich dann?“9
All dies hat Auswirkungen auf die jüdische Führung. Uns geht es nicht darum, Nummern zu zählen.
Das jüdische Volk war stets klein und hat dennoch Großes erreicht. Das Judentum hegt ein tiefes Misstrauen
gegenüber demagogischen Führern, die die Emotionen der Mengen manipulieren. Moses sprach am
brennenden Dornbusch von seiner unzulänglichen Wortgewandtheit: „Ich bin kein Mann der Worte“ (Exod.
4:10). Er dachte, dies sei ein Mangel für jemanden, der Verantwortung in einer Führungsposition übernehmen
soll. In Wirklichkeit aber war es das Gegenteil. Moses beeinflusste die Menschen nicht durch seine Redekunst,
er erhob sie durch seine Lehre.
Als jüdische Führungspersönlichkeit müssen Sie die Menschen als Individuen respektieren. Sie
müssen „ihre Häupter erheben“. Wenn Sie zu führen gedenken – egal, wie klein oder groß die Gruppe ist, die
Sie leiten -, sollten Sie stets den Wert kommunizieren, den Sie jedem Einzelnen beimessen, einschließlich
derer, die oft von anderen ausgeschlossen werden: die Witwe, die Waise und der Fremde. Sie dürfen niemals
versuchen, eine Menschenmenge zu beeinflussen, indem Sie sich an die primitiven Emotionen von Angst oder
Hass wenden. Niemals dürfen Sie die Meinung anderer unbeachtet lassen.
Es ist schwer, eine Nation von Individuen zu führen, doch dies ist die herausforderndste,
stärkste und inspirierendste Führung von allen.