Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Beerdigung. Die verstorbene Person hat ein langes Leben hinter sich, musste viel leiden, hat aber die Schwierigkeiten gemeistert und Großes vollbracht. Beim Abschied in der Trauerhalle halten Verwandte und Gäste Trauerreden, in denen sie an die großen Taten des Verstorbenen erinnern. Und plötzlich tritt jemand ans Rednerpult und betont, der Verstorbene habe seine wichtigste Tat erst in seinen letzten Lebensjahren vollbracht. Man kann sich vorstellen, wie erstaunt die Anwesenden bei diesen Worten wären.
BEGRÄBNIS Ob jemand solche Worte auch bei der Beerdigung unseres Vorvaters Jakow, die in unserem Wochenabschnitt beschrieben wird, zu sagen wagte, wissen wir nicht. Doch es wäre angebracht gewesen.
Auch wenn uns die schriftliche Tora, die fünf Bücher Mose, über die letzten Lebensjahre Jakows, die er in Ägypten verbrachte, wenig erzählt, offenbart uns doch die mündliche Tora, dass unser Vorvater auch in Ägypten nicht an Ruhe dachte.
Dabei wäre ein stilles Leben für den betagten Jakow durchaus möglich und sogar angebracht gewesen. Das harte Leben bei seinem Onkel, dem betrügerischen Lawan, das komplizierte Verhältnis zu seinem brutalen Bruder Esaw, die Entführung und Vergewaltigung seiner Tochter Dina, die Zerstörung von Schechem durch seine Söhne und die dadurch hervorgerufene Kriegsgefahr, der frühzeitige Tod seiner geliebten Frau Rachel – all das war Vergangenheit. In Ägypten wurde Jakow mit seiner Familie von seinem Sohn Josef, dem Vizekönig, versorgt und war von Enkeln und Urenkeln umringt. Was kann man sich da noch mehr wünschen?
Doch Jakow wäre nicht zu einem Urvater des jüdischen Volkes geworden, wenn er nicht daran gedacht hätte, was noch getan werden muss, um seine Lebensmission zu erfüllen. Ihm war bewusst, dass er in Ägypten noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hatte.
Seine Sorgen richteten sich in die Zukunft. Jakow kannte den Bund, den G’tt mit seinem Großvater Awraham geschlossen hatte, sehr gut. Und er wusste auch, dass ein Teil dieses Bundes die Versklavung war: »Und Er (der Ewige) sprach zu Awram: Du sollst wissen, dass deine Nachkommen Fremde sein werden in einem Land, das nicht das ihre ist, und sie werden sie knechten und sie unterdrücken 400 Jahre lang« (1. Buch Mose 15,13). Doch nicht die Versklavung selbst war Jakows größte Sorge. Vielmehr ging es ihm darum, seinen Nachkommen zu vermitteln: Gebt die Hoffnung nicht auf, dass ihr eines Tages aus der Versklavung erlöst werdet.
Die von G’tt angekündigten 400 Jahre in der Fremde sind eine lange Zeit. Denken wir nur an die ehemalige Sowjetunion. Dieses Imperium, das gegen G’tt und die Religion kämpfte, bestand nur 70 Jahre. Doch schon diese Zeit genügte, um Millionen sowjetische Juden zu assimilieren. Die Enkel und Urenkel der frommen Juden, die die Große Oktoberrevolution 1917 erlebt hatten, waren Jahre später meistens absolut säkular. Im besten Fall erinnerten sie sich noch an die Gefilte Fisch ihrer Großmutter oder an Mazzot für Pessach. Nur ganz wenige konnten noch Jiddisch sprechen, ganz zu schweigen von Hebräisch.
ERLÖSER Jakow verstand das gut und wusste, dass er unbedingt etwas unternehmen muss, damit seine Nachkommen in all den schweren Jahren in der Sklaverei fest daran glauben, dass eines Tages der Erlöser kommt und sie ins Gelobte Land führen wird. Und so setzte er ihnen, wie Rabbi Tanchuma in seinem Midrasch erzählt, ein sichtbares Zeichen, das sie immer vor Augen haben sollten.
Jakow hatte aus dem Heiligen Land eine kleine Zeder mit nach Ägypten gebracht und sie dort eingepflanzt. Er sah prophetisch voraus: Wenn die Juden Ägypten verlassen und die Tora erhalten, werden sie in der Wüste auch ein Heiligtum, ein Mischkan, bauen. Und dafür werden sie Holz brauchen, das in der Wüste schwer zu finden ist. Deshalb sollte diese Zeder das Baumaterial vorbereiten.
Vor allem aber sollte sie Jakows Nachkommen Hoffnung geben. Jeden Tag sahen sie diese Zeder und dachten: Ihr jetziges Leben in Ägypten ist unerträglich – doch dies wird ein Ende haben! G’tt wird ihnen den Erlöser senden, und sie und ihre Nachkommen werden für immer befreit sein.
IDENTITÄT Unsere Weisen erzählen, dass die Juden in Ägypten ihre jüdische Kleidung, ihre Sprache und ihre jüdischen Namen nie änderten und dadurch auch die Befreiung verdient hätten. Doch wie schafften sie es, in einer nichtjüdischen Umgebung ihre Identität zu bewahren? Diese Frage gilt auch für spätere Generationen, die Hunderte Jahre im Exil verbrachten und auch heute immer noch auf die Erlösung durch den Maschiach warten.
Der siebte Lubawitscher Rebbe, Rabbi Menachem Mendel Schneerson (1902–1994), betonte, dass die Juden die vielen Zeiten im Exil nur dank der Tora überstanden haben. Überall, wo sie außerhalb Israels leben mussten, gab es Jeschiwot, Tora-Akademien, und überall lebten große Rabbiner, die die Tora unterrichteten. In der Zerstreuung haben sie verschiedene Sprachen gesprochen, unterschiedliche Lieder gesungen und verschiedene Gerichte gegessen. Aber die Tora war das Einzige, was für alle Juden gleich war und sie als Volk vereinte. Dort jedoch, wo das Torastudium vernachlässigt wurde, kam es sehr schnell zur Assimilation und zum Verschwinden des jüdischen Lebens.
Doch in Ägypten damals gab es noch keine Tora. Zwar kannten unsere Vorväter die Ideen der Tora und lernten sie, die Wirkung jedoch, die die Tora als Zentrum des jüdischen Lebens hat, konnte sich erst nach ihrer Übergabe am Berg Sinai entfalten.
Gerade deshalb war das Pflanzen der Zeder in Ägypten wohl Jakows wichtigste Tat. Der Anblick des Baumes hat den versklavten und unterdrückten Juden die Kraft gegeben, ihre Identität zu bewahren. Hätten sich Jakows Nachkommen in Ägypten assimiliert, wäre alles, was Jakow in seinem Leben zuvor erreicht hatte, wertlos.
Wir können von ihm etwas Wichtiges lernen: Auch wenn wir unser Ziel schon erreicht haben und es scheinbar Zeit zum Ausruhen ist, sollen wir versuchen, weiterzudenken und überlegen, ob tatsächlich alles Mögliche getan worden ist, damit das Erreichte auch in Zukunft bestehen bleibt. Und wer weiß, vielleicht wird ja gerade die nächste Tat die wichtigste in unserem Leben sein.
Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 17. Dezember 2021