Mit den ersten Kapiteln des Buches Exodus stürzen Ereignisse von geradezu epischem Ausmaß auf uns herein. Unversehens, wie von einem Moment zum anderen, werden die Israeliten von einer geschützten Minderheit zu Sklaven. Moses erfährt durch das einschneidende, in die Zukunft weisende Erlebnis am brennenden Dornbusch eine Wandlung – einstmals am Hofe Pharaos wie ein Prinz behandelt, nun ein Hirte bei den Midianitern, wird er schließlich zum Führer der Israeliten. Es ist eine kleine, leicht zu übersehene Begebenheit, die es jedoch verdient, als Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit verstanden zu werden. Ihre Heldinnen sind zwei bemerkenswerte Frauen: Schifra und Pua.
Wir wissen nicht, wer sie waren. Die Tora gibt uns keine weiteren Informationen über sie, als dass sie Hebammen waren, die vom Pharao angewiesen wurden: „Wenn ihr den hebräischen Frauen bei der Geburt auf dem Entbindungsstuhl helft, und ihr seht, dass das Kind ein Junge ist, tötet es; ist es aber ein Mädchen, lasst es leben“ (Exod. 1:16). Die hebräische Bezeichnung der beiden Frauen als Hamejaldot Haiwrijot ist zweideutig. Es könnte „die hebräischen Hebammen“ bedeuten; so lesen es die meisten Übersetzungen und Kommentare. Es könnte aber auch heißen: „die Hebammen der Hebräer“, in diesem Fall könnten sie auch Ägypterinnen gewesen sein. So verstehen es Flavius Josephus,[1] Isaak Abarbanel und Samuel David Luzzatto, die argumentieren, dass es einfach nicht plausibel wäre, anzunehmen, dass hebräische Frauen an einem Völkermord gegen ihr eigenes Volk beteiligt werden könnten.
Was wir jedoch wissen, ist, dass sie sich weigerten, den Befehl auszuführen: „Die Hebammen aber fürchteten Gott und taten nicht, was der König von Ägypten ihnen befohlen hatte, und ließen die Knaben leben“ (Exod. 1:17). Dies ist der erste in der Geschichte verzeichnete Fall von zivilem Ungehorsam: Sie weigerten sich, den Befehl des mächtigsten Mannes im mächtigsten Reich der Antike Folge zu leisten, einfach weil er unmoralisch, unethisch und unmenschlich war.
Die Tora legt nahe, dass sie dies ohne großes Getue oder Drama taten. Als sie vom Pharao aufgefordert wurden, ihr Verhalten zu rechtfertigen, antworteten sie einfach: „Hebräische Frauen sind nicht wie ägyptische Frauen; sie sind kräftig und gebären, noch bevor die Hebamme zu ihnen kommt“ (Exod. 1:19). Darauf wusste Pharao nichts zu erwidern. Die Nüchternheit des ganzen Vorfalls erinnert uns an eine der wichtigsten Erkenntnisse über den Mut derjenigen, die während des Holocausts jüdisches Leben retteten. Sie hatten wenig gemeinsam, außer der Tatsache, dass sie in ihrem Tun nichts Bemerkenswertes sahen.[2] Wirkliche moralische Helden zeichnen sich oft dadurch aus, dass sie sich selbst nicht als solche betrachten. Sie tun, was sie tun, weil man als Mensch so handeln sollte. Das ist wahrscheinlich die Bedeutung der Aussage, dass sie „Gott fürchteten“. Es ist die allgemeine Beschreibung der Tora für diejenigen, die sich einer moralischen Wertvorstellung verpflichtet sehen.[3]
Es dauerte mehr als dreitausend Jahre, bis das, was die Hebammen taten, im internationalen Recht verankert wurde. Die 1946 in Nürnberg angeklagten Nazi-Kriegsverbrecher verteidigten sich alle damit, dass sie lediglich Befehle befolgt hätten, die von einer ordnungsgemäß gebildeten und demokratisch gewählten Regierung erteilt worden seien. Nach der Doktrin der nationalen Souveränität hat jede Regierung das Recht, ihre eigenen Gesetze zu erlassen und ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln. Es bedurfte eines neuen Rechtskonzepts, nämlich des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“, um die Schuld der Architekten und Verwalter des Völkermords zu konstatieren.
Das Nürnberger Prinzip gab dem, was die Hebammen instinktiv verstanden hatten, eine rechtliche Grundlage: Es gibt Befehle, die nicht befolgt werden dürfen, weil sie unmoralisch sind. Das moralische Recht steht über dem staatlichen Recht und kann dieses außer Kraft setzen. Der Talmud drückt es so aus: „Wenn es einen Konflikt zwischen den Worten des Meisters [Gott] und den Worten seines Schülers [eines Menschen] gibt, müssen die Worte des Meisters Vorrang haben“ (Kiduschin 42b).
Die Nürnberger Prozesse waren nicht die erste Gelegenheit, bei der die Geschichte der Hebammen einen bedeutenden Einfluss auf historische Ereignisse nahm. Während des gesamten Mittelalters hatte die Kirche volkssprachliche Übersetzungen der Bibel verboten. Sie wusste, dass Wissen Macht bedeutet, und zog es daher vor, es ausschließlich in den Händen der Priesterschaft zu halten. Im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts änderten drei Entwicklungen dies unwiderruflich. Erstens stellte die Reformation mit ihrer Maxime Sola scriptura, „Allein durch die Schrift“, die Bibel in den Mittelpunkt des religiösen Lebens.
Zweitens die Erfindung des Buchdrucks in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Die Lutheraner waren überzeugt, dass es sich dabei um göttliche Vorsehung handelte. Gott hatte die Druckerpresse geschickt, damit die Lehren der reformierten Kirche weltweit verbreitet werden konnten.
Der dritte Grund war die Tatsache, dass einige Menschen die Bibel ungeachtet des Verbots bereits übersetzt hatten. John Wycliffe und seine Anhänger hatten dies im vierzehnten Jahrhundert getan. Der einflussreichste Rebell aber war William Tyndale, dessen 1525 begonnene Übersetzung des Neuen Testaments zur ersten gedruckten Bibel in englischer Sprache wurde. Er bezahlte dafür mit seinem Leben.
Als Queen Mary I die Kirche von England zum Katholizismus zurückführte, flohen viele englische Protestanten gleich Calvin nach Genf, wo sie eine neue, auf Tyndale basierende Übersetzung, die so genannte Genfer Bibel, anfertigten. Sie wurde in einer kleinen, erschwinglichen Ausgabe hergestellt und in großen Mengen nach England geschmuggelt. Nun konnten die Menschen die Bibel zum ersten Mal selbst lesen, und so ging ihnen bald auf, dass es sich, auf die Monarchie bezogen, um ein höchst aufrührerisches Dokument handelte.
Und so lasen sie, wie Gott den Israeliten vorwarf, dass sie Ihn als ihren einzigen Herrscher zurückwiesen, als sie den Wunsch äußerten, einen israelitischen König einzusetzen. Anschaulich wird beschrieben, wie die Propheten sich nicht scheuten, mit Gottes Autorität selbst Könige herauszufordern. Und es wird die Geschichte der Hebammen erzählt, die sich weigerten, den Befehl des Pharao auszuführen. In einer Randbemerkung heißt die Genfer Bibel die Weigerung der Hebammen gut und kritisiert lediglich, dass sie bei der Begründung ihres Verhaltens zu einer Lüge gegriffen haben. In der Anmerkung heißt es: „Ihr Ungehorsam war rechtmäßig, ihr Verschweigen aber böse.“
King James, war sich der folgenschweren Tragweite dieses einen Satzes durchaus bewusst. Er bedeutete, dass man einem König aufgrund der Autorität Gottes allein den Gehorsam verweigern konnte: eine klare und kategorische Widerlegung der Idee vom göttlichen Recht der Könige.[4] Schließlich beschloss König James, der die Verbreitung der übersetzten Bibeln nicht aufhalten konnte, seine eigene Version in Auftrag zu geben, die 1611 erschien. Doch zu diesem Zeitpunkt war der Schaden bereits angerichtet und die Saat dessen, was letztendlich zum englischen Bürgerkrieg führen würde, ausgesät. Während des siebzehnten Jahrhunderts war die hebräische Bibel, wie sie von den Puritanern verstanden wurde, die bei weitem einflussreichste Kraft in der englischen Politik. Die Pilgerväter nahmen dann diesen Glauben mit auf ihre Reise in das Land, das schließlich die Vereinigten Staaten von Amerika werden sollte.
Anderthalb Jahrhunderte später war es das Werk eines anderen englischen Radikalen, Thomas Paine, das einen entscheidenden Einfluss auf die amerikanische Revolution haben sollte. Sein Pamphlet Common Sense wurde im Januar 1776 in Amerika veröffentlicht und augenblicklich zu einem Bestseller, von dem in kürzester Zeit fast 100.000 Exemplare verkauft wurden. Seine Wirkung war von enormem Ausmaß, und so wurde er als „Vater der amerikanischen Revolution“ bekannt. Obwohl Paine Atheist war, beruhen die ersten Seiten von Common Sense, in denen er die Rebellion gegen einen tyrannischen König rechtfertigt, vollständig auf Zitaten aus der hebräischen Bibel. Im gleichen Geist zeichnete Benjamin Franklin in jenem Sommer einen Entwurf für das Große Siegel der Vereinigten Staaten: ein Bild der Ägypter (d.h. der Engländer), die im Roten Meer (d.h. im Atlantik) ertrinken, mit der Bildunterschrift: „Rebellion gegen Tyrannen ist Gehorsam gegenüber Gott.“ Thomas Jefferson war von diesem Satz so beeindruckt, dass er ihn für das Große Siegel von Virginia empfahl und ihn später in sein persönliches Siegel aufnahm.
Die Geschichte der Hebammen gehört zu einer größeren Vision, die sich durch die gesamte Tora und den Tanach zieht: Recht steht souverän über jeglicher Macht. Sogar Gott selbst lässt sich im Namen der Gerechtigkeit zur Rechenschaft ziehen, wie er Abraham ausdrücklich aufträgt. Letztlich liegt alle Macht bei Gott, so dass jede menschliche Handlung oder Anordnung, die gegen den Willen Gottes verstößt, schon allein deshalb ein Ultra-vires-Akt ist. Diese revolutionären Ideen sind integrale Bestandteile der biblischen Vision von Politik und Macht.
Letzten Endes war es jedoch der Mut zweier bemerkenswerter Frauen, der den Präzedenzfall schuf, der später von dem amerikanischen Schriftsteller Thoreau[5] in seinem klassischen Essay „Ziviler Ungehorsam“ (1849) aufgegriffen wurde und der wiederum Gandhi und Martin Luther King Jr. im zwanzigsten Jahrhundert inspirierte. Jene Geschichte klingt zudem mit einer schönen Note aus. Im Text heißt es: „So war Gott den Hebammen freundlich gesinnt, und das Volk wuchs und wurde noch zahlreicher. Und weil die Hebammen Gott fürchteten, gab Er ihnen Häuser“ (Exod. 1:20-21).
Luzzatto interpretierte diesen letzten Satz in dem Sinne, dass Gott ihnen eigene Familien schenkte. Hebammen seien oft Frauen, die keine Kinder bekommen könnten. In diesem Fall aber, so Luzzatto, segnete Gott Schifra und Pua mit Kindern, wie Er es bei Sara, Rebekka und Rachel getan hatte.
Auch dies ist ein Punkt von nicht geringer Bedeutung. Die griechische Literatur kommt der Idee des zivilen Ungehorsams am nächsten mit der Geschichte von Antigone, die darauf bestand, ihren Bruder Polyneikes zu bestatten, obwohl König Kreon dies nicht erlaubte, weil er ihn als Verräter an Theben ansah. Sophokles’ „Antigone“ ist eine Tragödie: Die Heldin muss ob ihrer Treue zu ihrem Bruder und ihres Ungehorsams gegenüber dem König sterben. Im Gegensatz dazu ist die hebräische Bibel keine Tragödie. Tatsächlich gibt es im biblischen Hebräisch kein Wort, das „Tragödie“ im griechischen Sinne bedeutet. Das Gute wird belohnt, nicht bestraft, denn das Universum, Gottes Kunstwerk, ist eine Welt, in der moralisches Verhalten gesegnet ist und das Böse, das kurzzeitig die Oberhand gewinnen mag, letztlich besiegt wird.
Schifra und Pua sind zwei der großen Heldinnen der Weltliteratur, die Ersten, die der Menschheit die moralischen Grenzen der Macht aufwiesen.
[1] Flavius Josephus, Jüdische Altertümer, II.9.2. (Übersetzt von Heinrich Clementz, Marix Verlag, Wiesbaden).
[2] Siehe James Q. Wilson, The Moral Sense (New York, Free Press, 1993), S. 35-39, und die dort zitierte Literatur. Deutsche Ausgabe: Das moralische Empfinden (Hamburg, Ernst Kabel Verlag, 1994).
[3] Siehe zum Beispiel Gen. 20:11.
[4] Siehe Christopher Hill, The English Bible and the Seventeenth-Century Revolution (London, Allen Lane, 1993).
[5] Siehe Henry David Thoreau, Ziviler Ungehorsam (Reclams Universal-Bibliothek). Englische Originalausgabe: Civil Disobedience (Boston, David R. Godine, 1969, erstmals veröffentlicht 1849).
- Warum halten wir Shifra und Pua für heldenhaft? Haben sie nicht einfach nur getan, was richtig war?
- Was glaubst du, hättest du in ihrer Situation getan?
- Wie vermögen wir zu entscheiden, ob ein Gesetz unmoralisch ist und daher nicht befolgt werden sollte?
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