Jan ‍‍2022 - תשפב / תשפג

Das Gefüge einer gesunden Gesellschaft
Jitro

   Im britischen Oberhaus gibt es einen besonderen Raum, in dem unter anderem neue Peers vor ihrer Einführung in das Haus eingekleidet werden. Als mein Vorgänger, Lord Jakobovits, eingeführt wurde, sagte der Beamte, der ihn einkleidete, dass er der erste Rabbiner sei, der im Oberhaus geehrt werde. Lord Jakobovits erwiderte: „Nein, ich bin der zweite.“ „Wer war dann der erste?“, wollte der überraschte Beamte wissen. Der Sitzungssaal, in dem sie sich befanden, wird wegen des großen, den Raum dominierenden Gemäldes auch Moses-Zimmer genannt. Es zeigt Moses, der die Zehn Gebote vom Berg Sinai herabbringt. Indem Lord Jakobovits auf dieses Wandgemälde zeigte, bedeutete er dem Beamten, dass somit Moses der erste Rabbiner war, der im Oberhaus geehrt wurde.

Die in unserem Wochenabschnitt vorkommenden Zehn Gebote nehmen von jeher einen besonderen Platz ein, nicht nur im Judentum, sondern auch als übergreifende Wertvorstellung, die wir die jüdisch-christliche Ethik nennen. In den Vereinigten Staaten zieren sie oft die Gerichtshäuser, obgleich dies in einigen Staaten erfolgreich mit der Begründung angefochten wurde, dass es sich hierbei um einen Verstoß gegen den ersten Zusatzartikel der Verfassung handle: die Trennung von Kirche und Staat. Die Zehn Gebote sind nach wie vor der äußerste Ausdruck des höheren Rechts, dem alles menschliche Recht verpflichtet ist.

Auch im Judentum haben sie einen besonderen Stellenwert, heute wie damals. Zur Zeit des Zweiten Tempels wurden sie während der täglichen Gebete als Teil des Sch’ma rezitiert, das damals also vier und nicht drei Abschnitte hatte.[1] Erst als Sektierer zu behaupten begannen, dass nur diese, nicht aber die übrigen 603 Gebote direkt von Gott kämen, wurde die Rezitation eingestellt.[2]

Dennoch lebte der Text im steten Bewusstsein der Juden fort. Obwohl er aus den täglichen Gebeten der Gemeinde entfernt wurde, blieb er doch im Siddur als persönliche Einkehr erhalten um nach Abschluss des formellen Gottesdienstes gelesen zu werden. In den meisten Gemeinden steht man auf, wenn die Passage als Teil der öffentlichen Vorlesung aus der Tora zu Gehör gebracht wird, wenn auch Maimonides sich ausdrücklich dagegen ausgesprochen hat.[3]

Und dennoch ist die Einzigartigkeit der Zehn Gebote auf den ersten Blick nicht so ersichtlich. Als moralische Grundsätze waren sie meist nicht neu. In nahezu allen Gesellschaften gab es ja Gesetze gegen Mord, Raub und falsche Zeugenaussage. Eine gewisse Besonderheit liegt in der Tatsache, dass sie apodiktisch sind, d.h. einfache Aussagen wie „Du sollst nicht“ im Gegensatz zur kasuistischen Form „Wenn – dann“. Doch sind es nur zehn aus einem viel umfangreicheren Gesetzeskorpus von insgesamt 613 Geboten. Sie werden auch nicht einmal von der Tora selbst als „Zehn Gebote“ bezeichnet. Die Tora nennt sie asseret Hadewarim, die „zehn Aussprüche“. Daher auch die griechische Übersetzung Dekalog, was „zehn Worte“ bedeutet.

Das Besondere an ihnen ist, dass sie einfach formuliert und einprägsam sind. Im Judentum ist das Gesetz nicht nur für Richter bestimmt. Im Gegensatz zu Bündnissen, die in der Alten Welt zwischen Königen geschlossen wurden, entspricht das Wesen des Sinai-Bundes einem der Tora zugrunde liegenden tiefgreifenden Egalitarismus. Gott schloss Seinen Bund am Sinai mit dem ganzen Volk. Daher war eine einfache Erklärung der Grundprinzipien notwendig, die sich jeder leicht merken und rezitieren kann.

Mehr noch, sie legen für alle Zeiten die Parameter, fast könnte man sagen, die „Unternehmenskultur“ jüdischer Existenz fest. Um das zu verstehen, lohnt es sich, ihre Grundstruktur näher zu betrachten. Maimonides und Nachmanides hatten eine wesentliche Meinungsverschiedenheit über die Bedeutung des ersten Satzes: „Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus Ägypten, aus dem Land der Sklaverei, herausgeführt hat.“ Maimonides vertrat in Übereinstimmung mit dem Talmud die Ansicht, dass dies an sich das Gebot sei, an Gott zu glauben. Nachmanides vertrat hingegen die Auffassung, dass es sich bei dem Vers überhaupt nicht um ein Gebot handle. Vielmehr sei er ein Prolog oder eine Präambel zu den Geboten.[4] Die moderne Forschung bezüglich der Formulierung altorientalischer Bündnisse tendiert dazu, Nachmanides’ Sichtweise zu folgen.

Eine weitere grundsätzliche Frage ist, wie die Zehn Gebote aufzuteilen sind. Aufgrund der „zwei steinernen Tafeln“ (Deut. 4:13), auf denen sie eingraviert waren, sieht man sie auf den meisten Darstellungen in zwei Teile aufgeteilt. Grob gesagt geht es bei den ersten fünf Geboten um die Beziehung zwischen den Menschen und Gott und bei den folgenden fünf um die Beziehung zwischen den Menschen selbst. Es gibt jedoch noch einen anderen Ansatz für das Verständnis numerischer Strukturen in der Tora.

Die sieben Tage der Schöpfung sind beispielsweise als zwei Dreiergruppen strukturiert, gefolgt von einem allumfassenden siebten Tag. Während der ersten drei Tage unterschied Gott zwischen verschiedenen Bereichen: Licht und Dunkelheit, oberes und unteres Wasser, Meer und trockenes Land. In den zweiten drei Tagen füllte er jeden Bereich mit einer eigenen Materie und den entsprechenden Lebensformen: Sonne und Mond, Vögel und Fische, Tiere und Menschen. Der siebte Tag wurde von den anderen als heilig unterschieden.

Auch die zehn Plagen bestehen aus drei Dreiergruppen, gefolgt von einer eigenständigen zehnten Plage. In jeder der Dreiergruppen gab es vor den ersten beiden Plagen jeweils eine Vorwarnung, während die dritte ganz unverhofft einschlug. Bei der ersten Plage wurde Pharao früh am Morgen gewarnt (Exod. 7:16; 8:17; 9:13), bei der zweiten wurde Moses aufgefordert, im Palast „vor den Pharao zu treten“ (Exod. 7:26; 9:1; 10:1), und so weiter. Die zehnte Plage wurde im Gegensatz zu den anderen ganz am Anfang angekündigt (Exod. 4:23). Sie war eher eine Bestrafung denn eine Plage.

In ähnlicher Weise scheinen mir die Zehn Gebote in drei Dreiergruppen gegliedert zu sein, gefolgt von einem zehnten Gebote, das sich wiederum von den anderen abhebt. So gesehen, können wir verstehen, wie sie die Grundstruktur Israels bilden, die Tiefengrammatik einer Gesellschaft, die durch den Bund als „ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk“ an Gott gebunden ist (Exod. 19:6).

Die ersten drei – keine anderen Götter neben Mir zu haben, sich keine Götzenbilder zu machen und den Namen Gottes nicht vergeblich auszusprechen – definieren das jüdische Volk als „eine Nation unter Gott“. Gott ist unser oberster Regent. Daher unterliegt alle andere irdische Herrschaft den übergeordneten Imperativen, die Israel mit Gott verbinden. Die göttliche Herrschaft überragt alle anderen Loyalitäten (keine anderen Götter neben Mir). Gott ist eine lebendige Kraft, keine abstrakte Macht (keine Götzenbilder). Und Autorität setzt Ehrfurcht voraus (keinen Namensmissbrauch).

Die ersten drei Gebote, mit denen das Volk seinen Gehorsam und seine Loyalität gegenüber Gott vor allem anderen erklärt, legen das wichtigste Prinzip einer freien Gesellschaft fest: die moralischen Grenzen der Macht. Ohne diese besteht selbst in der Demokratie die Gefahr der Tyrannei der Mehrheit. Gegen diese ist die Souveränität Gottes der beste Schutz.

Die Gebote der zweiten Dreiergruppe – den Schabbat zu hüten, die Eltern zu ehren, und das Mordverbot – beruhen auf dem Prinzip des Geschaffenseins des Lebens. Sie setzen der Idee der Autonomie Grenzen, nämlich, dass wir frei sind zu tun, was wir wollen, solange es anderen nicht schadet. Der Schabbat ist der Tag, an dem sich der Mensch Gottes als Schöpfer und des Universums als seine Schöpfung bewusst wird. An einem von sieben Tagen sind daher alle menschlichen Hierarchien außer Kraft gesetzt, und jeder, ob Herr, Sklave, Arbeitgeber, Angestellter, ja sogar das Vieh, ist frei.

Die Ehrung der Eltern erkennt unser menschliches Geschaffensein an. Sie lehrt uns, dass nicht alles, was zählt, das Ergebnis unserer Entscheidung ist, vor allem nicht die Tatsache unser eigenen Existenz. So sind auch die Entscheidungen anderer Menschen wichtig, nicht nur unsere eigenen. „Du sollst nicht morden“ bekräftigt den zentralen Grundsatz des universalen noachidischen Bundes, dass Mord nicht nur ein Verbrechen gegen den Menschen ist, sondern eine Sünde gegen Gott, in dessen Ebenbilde wir geschaffen sind. Die Gebote vier bis sieben bilden also die grundlegenden Rechtsprinzipien des jüdischen Lebens. Sie sagen uns, dass wir uns unserer Herkunft bewusst bleiben sollen, um bedacht leben zu können.

Die dritte Dreiergruppe – nicht Ehebruch zu begehen, nicht zu stehlen und kein falsches Zeugnis abzulegen – etabliert die grundlegenden Einrichtungen einer Gesellschaft. Die Ehe ist heilig, weil sie das menschliche Band ist, das dem Bund zwischen uns und Gott am nächsten kommt. Sie ist nicht nur die auf Treue und Loyalität angewiesene menschliche Institution schlechthin, sie bildet auch die Grundlage einer freien Gesellschaft. Alexis de Tocqueville hat es am besten ausgedrückt: „Solange der Familiensinn lebendig bleibt, ist der Gegner der Unterdrückung nie allein.“[5]

Das Verbot des Diebstahls sichert die Unversehrtheit des Eigentums. Während Jefferson „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ als unveräußerliche Rechte definierte, verstand John Locke, der sich mehr an der hebräischen Bibel orientierte, darunter „Leben, Freiheit oder Besitz“.[6]  Tyrannen missbrauchen die Eigentumsrechte des Volkes, und der Angriff der Sklaverei auf die Menschenwürde besteht darin, dass sie mich des Eigentums an dem von mir geschaffenen Reichtum beraubt.

Das Verbot von Falschaussagen ist die Voraussetzung für Gerechtigkeit. Eine gerechte Gesellschaft benötigt mehr als ein Gerüst von Gesetzen, Gerichten und Vollzugsorganen. Wie Richter Learned Hand sagte: „Die Freiheit liegt in den Herzen der Männer und Frauen; wenn sie dort stirbt, vermag keine Verfassung, kein Gesetz, kein Gericht sie zu retten; keine Verfassung, kein Gesetz, kein Gericht kann ihr da auch nur annähernd helfen.“[7] Es gibt keine Freiheit ohne Gerechtigkeit, aber es gibt auch keine Gerechtigkeit, wenn nicht jeder von uns die individuelle und auch die kollektive Verantwortung dafür übernimmt, „die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit“.

Schließlich kommt das separat stehende Verbot, den Nachbarn um das Haus, die Frau, den Sklaven, die Magd, den Ochsen, den Esel oder irgendetwas anderes, was ihm gehört, zu beneiden. Dies mag überraschen, so wir die „zehn Worte“ als Befehle sehen, nicht aber, wenn wir sie als Grundprinzipien einer freien Gesellschaft verstehen. Die größte Herausforderung jeder Gesellschaft besteht darin, das universelle, unvermeidliche Phänomen des Neids in Grenzen zu halten: das Verlangen nach dem, was einem anderen gehört. An der Wurzel der Gewalt liegt der Neid.[8] Es war der Neid, der Kain dazu trieb, Abel zu ermorden, der Abraham und Isaak um ihr Leben fürchten ließ, weil sie mit schönen Frauen verheiratet waren, der Josefs Brüder dazu brachte, ihn zu hassen und in die Sklaverei zu verkaufen. Es ist der Neid, der zu Ehebruch, Diebstahl und Falschaussagen führt, und es war der Neid auf die Nachbarn, der die Israeliten immer wieder dazu anstiftete, Gott zugunsten der heidnischen Praktiken ihrer Zeit den Rücken zu kehren.

Neid ist das mangelnde Verständnis des Schöpfungsprinzips, wie es im ersten Kapitel der Genesis dargelegt ist: Alles hat seinen Platz im Plan der Dinge. Jeder von uns hat die ihm zugedachte Aufgabe und den für ihn bestimmten Segen, und jeder von uns wird von Gott geliebt und geschätzt. Wenn wir nach diesen Wahrheiten leben, waltet Ordnung. Vernachlässigen wir sie, herrscht Chaos. Nichts ist sinnloser und zerstörerischer, als sich durch das Glück eines anderen das eigene Glück mindern zu lassen, und das ist es, was Neid ist und was Neid bewirkt. Das Gegenmittel gegen Neid ist, wie Ben Soma bekanntermaßen sagte, „sich an dem zu erfreuen, was wir haben“ (Mischna Awot 4:1), und sich nicht um das zu sorgen, was wir noch nicht haben. Konsumgesellschaften beruhen auf der Auslösung und Verstärkung von Neid, was dazu führt, dass die Menschen mehr haben, sich aber weniger daran erfreuen.

Dreiunddreißig Jahrhunderte nachdem sie gegeben wurden, sind die Zehn Gebote immer noch die einfachste und kürzeste Anleitung für die Schaffung und Erhaltung einer gesunden Gesellschaft. Viele Alternativen sind ausprobiert worden – die meisten endeten in Tränen. Der weise Aphorismus bewahrheitet sich: Wenn alles andere versagt, lies die Anweisungen.

[1] Siehe Mischna Tamid 5:1, Berachot 12a.

[2] Wir wissen nicht, wer die Sektierer waren: Möglicherweise gehörten ihnen die frühen Christen an. Das Argument war, dass nur diese Gebote von den Israeliten direkt von Gott gehört wurden, während die übrigen Gebote indirekt, durch Moses gegeben wurden (siehe Raschi zu Berachot 12a).

[3] Maimonides, Responsa, Blau-Ausgabe (Jerusalem, Mekitze Nirdamim, 1960, Nr. 263).

[4] Maimonides, Sefer Hamizwot, Gebot 1; Nachmanides, Glossen ad loc.

[5] Alexis de Tocqueville, Democracy in America, gekürzt und mit einer Einführung von Thomas Bender (New York, Vintage Books, 1954), I:340.

[6] The Two Treatises of Civil Government (Cambridge, Cambridge University Press, 1988), S. 136.

[7] Learned Hand, The Spirit of Liberty, I-Am-an-American-Day-Feier (Central Park, New York City, 21. Mai 1944).

[8] Das beste Buch zu diesem Thema ist Envy; A Theory of Social Behaviour von Helmut Schoeck (New York, Harcourt, Brace & World, 1969).

1. Warum sind die Zehn Gebote im Judentum so wichtig?

2. Kannst du weitere Themen benennen, die in den Zehn Geboten ihren Niederschlag finden? 3. Warum betrachtet Rabbi Sacks den Neid als ein „Meta-Gebot“, das sich von allen anderen Geboten abhebt?

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier