Eine der amüsantesten Szenen der anglo-jüdischen Geschichte ereignete sich am 14. Oktober 1663. Es waren gerade einmal sieben Jahre vergangen, seit Oliver Cromwell kein gesetzliches Hindernis für das Leben von Juden in England gefunden hatte (daher die sogenannte „Rückkehr“ von 1656). In der Creechurch Lane in der Londoner City wurde eine kleine Synagoge eröffnet, der Vorläufer von Bevis Marks (1701), dem ältesten noch existierenden jüdischen Gotteshaus in Großbritannien.
Der berühmte Tagebuchautor Samuel Pepys beschloss, dieser neuen Kuriosität einen Besuch abzustatten, um zu sehen, wie sich Juden beim Gebet verhielten. Was er sah, verblüffte und empörte ihn zugleich. Wie es der Zufall oder die Vorsehung wollte, war der Tag, an dem er die Synagoge besuchte, Simchat Tora, das Torafreudenfest. Und so beschrieb er, was er sah:
„Und gleich darauf werden ihre Gesetze, die sie der Lade entheben, von mehreren Männern getragen, insgesamt vier oder fünf verschiedene Träger, und sie lösen einander ab; ob es sich so verhält, dass jeder sie einmal tragen will, vermag ich nicht zu sagen. So trugen sie sie im Raum umher, inmitten von Gesang… Aber, um Gottes Willen! Die Unordnung zu sehen, das Lachen, das Getanze, und keine Umsicht, sondern Durcheinander in all ihrem Dienst, eher wie Vieh denn Menschen, die den wahren Gott kennen. Dies bringt einen dazu zu schwören, sie nie wieder sehen zu wollen. Tatsächlich hatte ich noch nie zuvor so etwas erlebt, oder hätte mir je vorstellen können, dass es in der ganzen Welt eine Religion gibt, die so absurd ausgeübt wird wie diese.“[1]
Dies war nicht die Art von Verhalten, wie Pepys es in einem Gotteshaus gewohnt war.
Es gibt etwas Einzigartiges an der Beziehung der Juden zur Tora, die Art und Weise, wie wir uns in ihrer Gegenwart erheben, als wäre sie ein König, und mit ihr tanzen, als wäre sie eine Braut, ihr zuhören, wie sie uns unsere Geschichte erzählt, und sie studieren, wie es in unseren Gebeten heißt, als „unser Leben und die Dauer unserer Tage“. Es gibt nur wenige ergreifendere Gebetsstellen als die, die in einem Gedicht, zu Ne’ila, am Ende von Jom Kippur, gesprochen wird: Ejn Shijur rak Hatora hasot – „Nichts verbleibt“, nach der Zerstörung des Tempels und dem Verlust des Landes, „als diese Tora“. Ein Buch, eine Schriftrolle, war alles, was zwischen Juden und der Verzweiflung stand.
Was Nicht-Juden (und manchmal auch Juden) nicht zu schätzen wissen, ist, dass die Tora im Judentum das Gesetz als Liebe und die Liebe als Gesetz darstellt. Die Tora ist nicht nur ein „offenbartes Gesetz“.[2] Sie steht für das Vertrauen, mit dem Gott unseren Vorfahren die Schaffung einer Gesellschaft anvertraute, die ein Zuhause für seine Gegenwart und ein Beispiel für die Welt werden sollte.
Einer der Schlüssel zum Verständnis, wie dies funktionierte, ist im Wochenabschnitt Bamidbar enthalten, der immer vor Schawuot, dem Gedenken an die Übergabe der Tora, gelesen wird. Er erinnert uns daran, von welch zentraler Bedeutung die Idee der Wildnis – der Wüste, des Niemandslandes – für das Judentum ist. Es ist Midbar, die Wüste, die unserer Parascha und dem ganzen Buch seinen Namen gibt. In der Wüste schlossen die Israeliten einen Bund mit Gott und empfingen die Tora, ihre Verfassung als Volk unter der Herrschaft Gottes. Die Wüste ist der Schauplatz von vier der fünf Bücher der Tora, und es war dort, wo die Israeliten ihren intimsten Kontakt mit Gott erlebten, der ihnen Wasser aus einem Felsen und Manna vom Himmel schickte und sie mit den Wolken der Herrlichkeit umgab.
Welche Geschichte wird hier erzählt? Die Tora vermittelt uns drei grundlegende Dinge über jüdische Identität. Erstens ist da das einzigartige Phänomen, dass im Judentum das Gesetz dem Land vorausging. Bei allen anderen Völkern in der Geschichte war es umgekehrt. Zuerst kam das Land, dann die menschliche Besiedlung, zuerst in kleinen Gruppen, später in Dörfern, Städten und Gemeinden. Daraufhin kamen Ordnungs- und Regierungsformen und ein Rechtssystem: erst das Land, dann das Gesetz.
Die Tatsache, dass den Israeliten die Tora in der Wüste, Bamidbar, gegeben wurde, noch bevor sie das Land betreten hatten, bedeutete, dass nur Juden und das Judentum selbst im Exil mit ihrer Identität überleben konnten. Da das Gesetz vor dem Land kam, würden die Israeliten dieses Gesetz auch dann noch haben, wenn sie dieses Land verlieren würden. Dies bedeutete, dass Juden auch im Exil noch ein Volk waren. Gott blieb ihr Herrscher, der Bund war immer noch in Kraft. Selbst ohne geografischen Ort hatten sie eine kontinuierliche Geschichte. Noch bevor sie das Land betraten, war den Juden die Fähigkeit gegeben worden, außerhalb des Landes zu überleben.
Zweitens gibt es eine faszinierende Verbindung zwischen Midbar, der „Wüste“, und Dawar, dem „Wort“. Während andere Völker ihre Götter in der Natur fanden – im Regen, in der Erde, der Fruchtbarkeit und in den Abschnitten des landwirtschaftlichen Jahres -, entdeckten die Juden Gott in der Transzendenz, jenseits der Natur, einen Gott, den man nicht sehen, sondern nur hören kann. In der Wüste gibt es keine Natur. Stattdessen herrscht Leere und Stille, eine Stille, in der man die überirdische Stimme des Einen, der jenseits der Welt ist, vernehmen kann. Wie Edmond Jabès es ausdrückte: „Das Wort kann nur in der Stille anderer Worte wohnen. Sprechen heißt demnach, sich an die Metapher der Wüste anzulehnen“.[3]
Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Eric Voegelin sah dies für die in der Erfahrung der Israeliten völlig neu entstandene Form der Spiritualität als grundlegend an:
Wenn wir den Exodus unternehmen und in die Welt wandern, um anderswo eine neue Gesellschaft zu gründen, entdecken wir die Welt als Wüste. Die Flucht führt nirgendwohin, bis wir innehalten, um uns neu zu orientieren: jenseits dieser Welt. Wenn die Welt zur Wüste geworden ist, umgibt den Menschen endlich die Einsamkeit, in der ihm dann die donnernde Stimme des Geistes bewusst wird, der ihn mit seinem eindringlichen Wispern bereits aus dem Sche’ol [dem Bereich des Todes] geführt und gerettet hat. In der Wüste sprach Gott zum Führer und seinen Stämmen; in der Wüste hatten sie, indem sie auf die Stimme hörten, ihr Angebot annahmen und sich ihrem Befehl unterwarfen, nunmehr das Leben erreicht und wurden das von Gott erwählte Volk.[4]
In der Stille der Wüste wurde Israel zu dem Volk, für das die wichtigste religiöse Erfahrung nicht das Sehen, sondern das Hören und Zuhören war: Sch’ma Jisrael. Der Gott Israels offenbarte sich in der Sprache. Das Judentum ist eine Religion der heiligen Worte, in der der heiligste Gegenstand ein Buch, eine Schriftrolle, ein Text ist.
Drittens und am bemerkenswertesten ist die Deutung, die die Propheten diesen prägenden Jahren gaben, in denen die Israeliten, nachdem sie Ägypten verlassen und das Land noch nicht betreten hatten und allein mit Gott waren. Als Hosea einen zweiten Exodus prophezeit, sagt er im Namen Gottes über die Israeliten:
„Ich will sie in die Wüste führen und zärtlich zu ihr reden…
Dort wird sie erwidern wie in den Tagen ihrer Jugend,
wie an dem Tag, als sie aus Ägypten auszog“ (Hos. 2:14-15).
Jeremia sagt in Gottes Namen:
„Ich erinnere Mich an die Hingabe deiner Jugend, wie du Mich wie eine Braut geliebt hast und Mir durch die Wüste gefolgt bist, durch ein Land, das nicht besät ist“ (Jer. 2:2).
Schir Haschirim, das Hohelied, enthält den Satz: „Wer ist sie, die aus der Wüste heraufkommt, gestützt auf ihren Geliebten?“ (Schir Haschirim 8:5).
Allen diesen Texten ist die Vorstellung von der Wüste als „Flitterwochen“ gemein, in denen Gott und das Volk, gleich Bräutigam und Braut, allein beieinander waren und ihre Vereinigung in Liebe vollzogen. In der Tora selbst sehen wir die Israeliten als ein widerspenstiges, eigensinniges Volk, das sich über Gott beschwert und sich wider Ihn auflehnt. Und doch sahen die Propheten die Dinge im Rückblick anders: Die Wüste war eine Art Jichud, ein Allein- und Zusammensein, in dem sich das Volk und Gott in Liebe verbanden.
Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Arbeit des Anthropologen Arnold van Gennep, der die Bedeutung von „Übergangsriten“ hervorhob.[5] Gesellschaften entwickeln Rituale, um den Übergang von einem Zustand zum nächsten zu markieren – zum Beispiel von der Kindheit zur Volljährigkeit oder vom Junggesellendasein zur Ehe -, und sie umfassen drei Stufen: Die erste ist die Trennung, ein symbolischer Bruch mit der Vergangenheit. Die letzte ist die Eingliederung, der Wiedereintritt in die Gesellschaft mit einer neuen Identität. Dazwischen liegt die entscheidende Phase des Übergangs, in der man – da die eine Identität abgelegt, eine neue aber noch nicht angenommen ist – neu erschaffen, wiedergeboren und umgestaltet wird.
Van Gennep verwendet den englischen Begriff liminal, vom lateinischen Wort für „Schwelle“, um diesen Übergangszustand zu beschreiben, in dem man sich in einer Art Niemandsland zwischen dem Alten und dem Neuen befindet. Das ist es, was die Wüste für Israel bedeutet: ein Schwellenbereich zwischen Sklaverei und Freiheit, Vergangenheit und Zukunft, Exil und Rückkehr, Ägypten und dem Gelobten Land. Die Wüste war der Raum, der den Übergang und die Verwandlung ermöglichte. Dort, im Niemandsland, konnten die Israeliten, allein mit Gott und miteinander, die eine Identität ablegen und eine neue annehmen. Dort konnten sie neu geboren werden, nicht länger Sklaven des Pharao sein, sondern Diener Gottes, berufen, „ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk“ zu werden (Exod. 19:6).
Das Verständnis der Wüste als Zwischenraum, gestattet uns, die Verbindung zwischen den Israeliten in den Tagen Moses und dem Vorfahren, dessen Namen sie trugen, zu erkennen: Unter den Patriarchen war es Jakob, der seine intensivsten Gotteserfahrungen im Schwellenraum machte, zwischen dem Ort, den er verließ, und dem Ort, zu dem er reiste, allein und bei Nacht. Eben dort sah er auf der Flucht vor seinem Bruder Esau, aber noch nicht im Hause Labans angekommen, die Vision einer Leiter, die von der Erde bis zum Himmel reichte und auf der Engel auf- und abstiegen, und dort kämpfte er auf seiner Rückkehr mit einem Fremden die Nacht hindurch bis zum Morgengrauen und erhielt den Namen Israel.
Diese Begebenheiten können nun als Vorzeichen dessen verstanden werden, was sich später mit seinen Nachkommen ereignen würde (Ma’ase Awot Siman Lewanim, „die Taten der Väter sind ein Vorzeichen für das, was später den Kindern widerfahren wird“).[6]
Die Wüste wurde so zum Geburtsort einer völlig neuen Beziehung zwischen Gott und Mensch, einer Beziehung, die auf Bund, Rede und Liebe beruht, wie sie in der Tora konkretisiert sind. Fern von den großen Zentren der Zivilisation fand sich ein Volk allein mit Gott und vollendete dort ein Verbund, den weder Exil noch Tragödien zerreißen konnten. Dies ist die moralische Wahrheit, die im Herzen unseres Glaubens liegt: nicht Macht oder Politik verbinden uns mit Gott, sondern die Liebe.
Die Freude, als die heilige Lade nach Jerusalem gebracht und diese Liebe gefeiert wurde, veranlasste König David „zu springen und zu tanzen“, was die Missbilligung von König Sauls Tochter Michal zur Folge hatte (II Sam. 6:16). Viele Jahrhunderte später feierten die englischen Juden in der Creechurch Lane Simchat Tora und tanzten vor Freude, während Samuel Pepys dies missbilligte. Wenn die Liebe die Würde besiegt, ist der Glaube lebendig und gesund.
[1] Samuel Pepys, The Diary of Samuel Pepys, Eintrag für den 14. Oktober 1663, herausgegeben von Richard Le Gallienne (New York, Modern Library Classics, 2003), S. 106. Deutsche Ausgabe: Die Tagebücher 1660–1969, Vollständige Ausgabe in 6 Bänden nebst einem Beiheft (Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, 2018).
[2] So beschrieb es Moses Mendelssohn in Jerusalem, or, On Religious Power and Judaism, Englisch von Allan Arkush (Hanover, New Hampshire, University Press of New England, 1983), S. 89-90, S. 126-28. Deutsche Ausgabe: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (Felix Meiner Verlag, Philosophische Bibliothek, 2010)
[3] Edmond Jabès, Du Desert au Libre (Paris, Pierre Belford, 1980) S. 101. Deutsche Ausgabe: Ordnung und Geschichte, Band 2: Israel und die Offenbarung – Die Geburt der Geschichte (Wilhelm Fink Verlag Periagoge, 2005).
[4] Eric Voegelin, Israel and Revelation (Louisiana State University Press, 1956), S. 153.
[5] Arnold Van Gennep, Übergangsriten (Campus Bibliothek, Erstauflage, 2005).
[6] Siehe Rambans Kommentar zu Gen. 12:6.
- Warum wurde die Tora dem Volk nicht gegeben, als es das Land Israel erreichte?
- Welche jüdischen „Übergangsriten“ steigern Ihre Gefühle der Freude und der Liebe zum Judentum?
- Was glauben Sie, welchen Eindruck jemand vom Judentum haben würde, wenn seine Erfahrung auf einem Besuch in Ihrer Synagoge zu Simchat Tora beruhte?
Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier