Was soll man tun, wenn das eigene Volk gerade ein Goldenes Kalb gefertigt hat, randaliert und seinen Sinn für ethische und geistige Orientierung verloren hat? Wie stellt man da die moralische Ordnung wieder her – nicht nur damals, zu Moses’ Zeiten, sondern auch in der heutigen Zeit? Die Antwort liegt im ersten Wort des heutigen Wochenabschnitts: Wajakhel. Aber um das zu verstehen, müssen wir zwei Reisen zurückverfolgen, die zu den schicksalhaftesten der modernen Welt gehören.
Die Geschichte beginnt im Jahr 1831, als zwei junge Männer, beide in den Zwanzigern – der eine aus England, der andere aus Frankreich – zu Entdeckungsreisen aufbrachen, die sie beide verändern sollten und am Ende auch unser aller Verständnis von der Welt. Der Engländer war Charles Darwin, der Franzose Alexis de Tocqueville. Darwins Reise an Bord der Beagle führte ihn schließlich zu den Galapagos-Inseln, wo er begann, über den Ursprung und die Evolution der Arten nachzudenken. Tocquevilles Reise diente der Untersuchung eines Phänomens, das auch zum Titel seines Buches wurde: Über die Demokratie in Amerika.
Obwohl die beiden Männer völlig unterschiedliche Dinge studierten, der eine Zoologie und Biologie, der andere Politik und Soziologie, kamen sie, wie wir sehen werden, zu einem verblüffend ähnlichen Ergebnis – zur gleichen Schlussfolgerung, die Gott Moses nach der Episode mit dem Goldenen Kalb lehrte.
Darwin machte, wie wir wissen, eine Reihe von Entdeckungen, die ihn zu der unter dem Namen natürliche Selektion bekannt gewordenen Theorie führten: Die Arten konkurrieren um knappe Ressourcen, und nur die am besten Angepassten überleben. Das Gleiche, so glaubte er, gelte auch für den Menschen. Dies stellte ihn jedoch vor ein ernsthaftes Problem: Wenn die Evolution ein Kampf ums Überleben ist, wenn die Starken gewinnen und die Schwachen untergehen, dann müsste Rücksichtslosigkeit immer obsiegen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Alle Gesellschaften schätzen Selbstlosigkeit. Die Menschen achten jene, die zum Wohle anderer Opfer bringen. Aus darwinistischer Sicht scheint das überhaupt keinen Sinn zu machen, und er wusste das.
Die tapfersten und aufopferungsvollsten Menschen, so schrieb er in Die Abstammung des Menschen, „würden im Durchschnitt in größerer Zahl umkommen als andere Menschen“. Ein edler Mensch würde „oft keine Nachkommen hinterlassen, die seine edle Natur erben“. Es scheint kaum möglich zu sein, schrieb er, dass Tugend „durch natürliche Auslese, also durch das Überleben des Stärkeren, vermehrt werden könnte.“[1]
Darwins Größe bestand darin, dass er sich der Antwort bewusst war, auch wenn sie seiner allgemeinen These widersprach: Die natürliche Auslese wirkt auf der Ebene des Individuums. Als einzelne Männer und Frauen geben wir unsere Gene an die nächste Generation weiter. Die Zivilisation hingegen funktioniert auf der Ebene der Gemeinschaft.
So sagt Darwin:
„Ein Stamm, der viele Mitglieder umfasst, die in einem hohen Grade den Geist des Patriotismus, der Treue, des Gehorsams, des Mutes und des Mitgefühls besitzen und daher stets bereit sind, einander zu helfen und sich für das Gemeinwohl zu opfern, wird über die meisten anderen Stämme den Sieg davontragen, und dies würde die natürliche Auslese sein.“
Wie man vom Individuum zur Gruppe gelangt, sei „gegenwärtig viel zu schwierig, um gelöst zu werden“.[2]
Die Schlussfolgerung lag auf der Hand, auch wenn Biologen bis heute über die damit verbundenen Mechanismen streiten.[3] Wir überleben als Gruppe. Ein Mensch gegen einen Löwen: Der Löwe gewinnt. Zehn Menschen gegen einen Löwen: Eine Niederlage des Löwen wird möglich. Der Homo sapiens ist, was seine Kraft und Schnelligkeit im Vergleich zu den Spitzenreitern im Tierreich angeht, ein schwacher Konkurrent. Er besitzt jedoch einzigartige Fähigkeiten, wenn es um die Bildung und Aufrechterhaltung von Gruppen geht. Sprache: Wir können miteinander kommunizieren. Kultur: Wir können unsere Entdeckungen an künftige Generationen weitergeben. Der Mensch bildet größere und flexiblere Gruppen als jede andere Spezies, wobei er gleichzeitig Raum für Individualität lässt. Wir sind keine Ameisen in einer Kolonie oder Bienen in einem Bienenstock. Der Mensch ist das gemeinschaftsstiftende Tier.
In Amerika sah sich Alexis de Tocqueville, wie Darwin, mit einem bedeutenden intellektuellen Problem konfrontiert, auf dessen Lösung er versessen war. Sein Problem als Franzose bestand darin, die Rolle der Religion im demokratischen Amerika zu verstehen. Er war sich bewusst, dass sich die Vereinigten Staaten mit der Trennung von Kirche und Staat, wie im Ersten Zusatzartikel ihrer Verfassung verankert, für die Scheidung von Religion und Macht enschieden hatten. Religion besaß in Amerika also keine Macht. Er nahm an, dass sie auch keinen Einfluss hatte. Was er entdeckte, war das genaue Gegenteil:
„Es gibt kein Land auf der Welt, in dem die christliche Religion weiterhin einen größeren Einfluss auf die Seelen der Menschen hat als in Amerika.“[4]
Warum das so war, leuchtete ihm überhaupt nicht ein, und er bat verschiedene Amerikaner, ihm dies zu erklären. Jeder gab ihm im Wesentlichen die gleiche Antwort: Die Religion mischt sich in Amerika (zur Erinnerung: wir sprechen von den frühen 1830er Jahren) nicht in die Politik ein. Er befragte Kleriker, warum denn nicht, und wieder waren sich alle in ihrer Antwort einig: Politik spaltet. Würde sich die Religion also in die Politik einmischen, wäre auch sie spaltend. Aus diesem Grund hielt sich die Religion von parteipolitischen Fragen fern.
Tocqueville untersuchte genau, was die Religion in Amerika tatsächlich bewirkte, und er kam zu einigen faszinierenden Erkenntnissen. Sie stärkte die Ehe, und er glaubte, dass stabile Ehen für freie Gesellschaften unerlässlich seien. So schrieb er:
„Solange das Familiengefühl lebendig bleibt, ist der Kämpfer gegen die Unterdrückung nie allein.“[5]
Religion veranlasste die Menschen auch dazu, Gemeinschaften um Gotteshäuser herum zu bilden. Sie ermutigte die Menschen in diesen Gemeinden, gemeinsam für das Gemeinwohl zu arbeiten. Die große Gefahr in einer Demokratie ist nach Tocqueville der Individualismus: Menschen, die sich nur noch um sich selbst und nicht mehr um andere kümmern. Was jene anderen angeht, so bestehe die Gefahr darin, dass die Menschen ihr Wohlergehen der Regierung überlassen, ein Prozess, der mit dem Verlust der Freiheit endet, da der Staat immer mehr Verantwortung für die Gesellschaft als Ganzes übernimmt.
Was die Amerikaner vor diesen beiden Gefahren bewahre, sei die Tatsache, dass sie, ermutigt durch ihre religiösen Überzeugungen, Vereinigungen, Wohltätigkeitsorganisationen, freiwillige Vereinigungen bilden, im Judentum Chewrot genannt. Zunächst verblüfft, dann begeistert, stellte Tocqueville fest, wie schnell die Amerikaner lokale Gruppen bildeten, um die Probleme in ihrem Leben zu bewältigen. Er nannte dies die „Kunst des Zusammenschlusses“ und sagte darüber, es sei „die Lehre der Freiheit“.
All dies war das Gegenteil von dem, was er aus Frankreich kannte, wo die Religion in Form der katholischen Kirche viel Macht, aber wenig Einfluss besaß. Über Frankreich sagte er:
„Fast immer musste ich feststellen, dass der Geist der Religion und der Geist der Freiheit in entgegengesetzte Richtungen liefen. In Amerika aber fand ich, dass sie eng miteinander verbunden sind und gemeinsam über das Land herrschen.“[6]
Die Religion bewahrte also die „Gewohnheiten des Herzens“, die für die Aufrechterhaltung der demokratischen Freiheit unerlässlich waren. Sie heiligte die Ehe und das Heim. Sie schützte die öffentliche Moral und brachte die Menschen dazu, in ihren Gemeinden zusammenzuarbeiten, um Probleme selbst zu lösen, anstatt sie der Regierung zu überlassen. Während Darwin entdeckte, dass der Mensch das gemeinschaftsbildende Tier ist, fand Tocqueville heraus, dass die Religion in Amerika die gemeinschaftsbildende Institution ist.
Das ist sie immer noch. Der Harvard-Soziologe Robert Putnam wurde in den 1990er Jahren durch seine empirische Studie bekannt, derzufolge mehr Amerikaner als je zuvor zum Bowling gehen, aber weniger einem Bowlingclub oder -verein beitreten. Er sah darin eine Metapher für eine Gesellschaft, die eher individualistisch als gemeinschaftsorientiert geworden ist. Er nannte es Bowling Alone – „allein Bowlen“[7] Es war ein Satz, der den Verlust von „sozialem Kapital“ zusammenfasste, also das Ausmaß an sozialen Netzwerken, durch die Menschen einander helfen.
Jahre später, nach umfangreichen Untersuchungen, revidierte Putnam seine These: Ein gewaltiger Vorrat an sozialem Kapital sei immer noch vorhanden: in Gotteshäusern. Umfragedaten zeigten, dass regelmäßige Kirchen- oder Synagogenbesucher eher bereit sind, Geld für wohltätige Zwecke zu spenden, unabhängig davon, ob es sich um eine religiöse oder weltliche Organisation handelt. Sie sind auch eher bereit, ehrenamtliche Arbeit für eine Wohltätigkeitsorganisation zu leisten, einem Obdachlosen Geld zu geben, Zeit mit jemandem zu verbringen, der deprimiert ist, einem Fremden einen Sitzplatz anzubieten oder jemandem bei der Arbeitssuche zu helfen. In fast allen Bereichen sind sie nachweislich uneigennütziger als Nichtgläubige.
Ihr Altruismus geht noch darüber hinaus: Menschen, die wiederholt Gottesdienste besuchen, sind auch deutlich aktivere Bürger. Sie sind eher Mitglied in kommunalen Organisationen, Nachbarschafts- und Bürgergruppen und Berufsverbänden. Sie engagieren sich, opfern viel Zeit und übernehmen Verantwortung. Die Differenz zwischen ihnen und den eher säkularen Menschen ist groß.
In Bezug auf soziales Engagement ist die Religiosität, gemessen am Kirchen- oder Synagogenbesuch, der beste Prädikator für Altruismus und Empathie, eher als Bildung, Alter, Einkommen, Geschlecht oder Rasse. Die wohl interessanteste Erkenntnis Putnams war, dass diese Eigenschaften nicht mit den religiösen Überzeugungen der Menschen zusammenhingen, sondern mit der Häufigkeit, mit der sie ein Gotteshaus besuchen.[8]
Religion schafft Gemeinschaft, Gemeinschaft schafft Altruismus, und Altruismus bedeutet, dass wir uns selbst nicht in den Vordergrund schieben, sondern dem Gemeinwohl dienen. Putnam geht sogar so weit zu spekulieren, dass ein Atheist, der regelmäßig in die Synagoge geht (vielleicht wegen seines Ehepartners), sich eher ehrenamtlich engagiert oder für wohltätige Zwecke spendet als ein religiöser Gläubiger, der für sich allein betet. Es gibt etwas an der Art der Beziehungen innerhalb einer Gemeinschaft, das die beste Anleitung ist für Bürgersinn und gute Nachbarschaft.
Was Moses nach dem Goldenen Kalb zu tun hatte, war Wajakhel – er musste die Israeliten in eine Kehila, eine Gemeinschaft, verwandeln. Er tat dies zunächst im offensichtlichen Sinne der Wiederherstellung der Ordnung. Als Moses vom Berg herunterkam und das Kalb sah, da heißt es in der Tora, dass das Volk peru’a war, was so viel bedeutet wie „wild“, „ungeordnet“, „chaotisch“, „unbändig“, „ungestüm“. Er „sah, dass das Volk außer Rand und Band war und dass Aaron es hatte außer Kontrolle geraten und so zum Gespött seiner Feinde werden lassen“ (Exod. 32:25). Sie waren keine Gemeinschaft, sondern eine Menschenmenge. Daraufhin tat er etwas, was einen entscheidenden, tiefen Sinn hatte, wie wir im weiteren Verlauf der Parascha sehen. Zunächst erinnerte er das Volk an die Gesetze des Schabbat. Dann wies er es an, den Mischkan, das Heiligtum, als symbolisches Haus für Gott zu bauen.
Warum diese beiden Gebote und nicht andere? Weil der Schabbat und der Mischkan die beiden wirksamsten Mittel sind, um Gemeinschaft zu erschaffen. Der beste Weg, aus einer heterogenen, losen Gruppe ein Team zu machen, ist, sie dazu zu bringen, etwas gemeinsam zu bauen.[9] Daher der Mischkan. Der beste Weg, Beziehungen zu stärken, ist, eine Zeit zu bestimmen, in der wir uns nicht darauf konzentrieren, unsere individuellen Interessen zu verfolgen, sondern darauf, was wir gemeinsam haben, indem wir zusammen beten, die Tora studieren und gemeinsam feiern – mit anderen Worten: Schabbat. Der Mischkan und der Schabbat waren die beiden großen gemeinschaftsbildenden Erfahrungen der Israeliten in der Wüste.
Mehr als das: Im Judentum ist die Gemeinde für das spirituelle Leben unerlässlich. Unsere heiligsten Gebete erfordern einen Minjan. Wenn wir feiern oder trauern, tun wir dies als Gemeinschaft. Selbst wenn wir beichten, tun wir dies gemeinsam. Maimonides schreibt vor:
Wer sich von der Gemeinschaft trennt, auch wenn er keine Übertretung begeht, sondern sich lediglich von der Gemeinde Israels fernhält, die Gebote nicht gemeinsam mit seinem Volk erfüllt, sich gleichgültig gegenüber der Not anderer zeigt, die Fasttage nicht einhält, sondern seinen eigenen Weg geht wie eine der Nationen, die nicht zum jüdischen Volk gehören – ein solcher Mensch hat keinen Anteil an der kommenden Welt.[10]
So ist die Religion nicht immer gesehen worden. Der antike Philosoph Plotin nannte die religiöse Suche „die Flucht des Einsamen zum Einzig-Einsamen“.[11] William Ralph Inge sagte, Religion sei das, was ein Individuum mit seiner Einsamkeit anfängt. Und bei Jean-Paul Sartre heißt es bekanntlich: Die Hölle, das sind die anderen. Im Judentum treten wir als eine Gemeinschaft vor Gott. Für uns ist die Schlüsselbeziehung nicht Ich-Du, sondern Wir-Du.
Wajakhel ist also keine gewöhnliche Begebenheit in der Geschichte Israels. Es markiert die wesentliche Einsicht, die aus der Krise um das Goldene Kalb hervorgeht: Wir finden Gott in der Gemeinschaft. In der Gemeinschaft entwickeln wir Tugend, Charakterstärke und ein Engagement für das Gemeinwohl. Gemeinde ist ortsnah, eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz. Sie ist nicht die Regierung, nicht jene, die wir dafür bezahlen, dass sie sich um das Wohlergehen anderer kümmern. Es ist die Arbeit, die wir selbst leisten, gemeinsam.
Die Gemeinschaft ist das Gegenmittel zum Individualismus einerseits und zum übermäßigen Vertrauen auf den Staat andererseits. Darwin erkannte ihre Bedeutung für das menschliche Wohlergehen. Tocqueville verstand ihre Rolle beim Schutz demokratischer Freiheit. Robert Putnam hat ihren Wert für die Erhaltung des Sozialkapitals und des Gemeinwohls dokumentiert. Und alles begann in unserer Parascha, als Moses einen widerspenstigen Mob in eine Kehila, eine Gemeinde, verwandelte.
[1] Charles Darwin, The Descent of Man (Princeton University Press, 1981), S. 158-84. Deutsche Ausgabe: Die Abstammung des Menschen (Alfred Kröner Verlag, 5., durchgesehene Ausgabe, 2002).
[2] Ibid., S. 166.
[3] Dies ist der Streit zwischen E. O. Wilson und Richard Dawkins. Siehe Edward O. Wilson, The Social Conquest of Earth (New York, Liveright, 2012). Und die Rezension von Richard Dawkins im Prospect Magazine, Juni 2012.
[4] Alexis de Tocqueville, Democracy in America, gekürzt und mit einer Einführung von Thomas Bender, (New York, Vintage Books, 1954), I:314. Deutsche Ausgabe: Über die Demokratie in Amerika (Ditzingen, Reclam-Verlag, 2021)
[5] Ibid., I:340.
[6] Ibid., I:319.
[7] Robert D. Putnam, Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community (New York, Simon & Schuster, 2000).
[8] Robert D. Putnam und David E. Campbell, American Grace: How Religion Divides and Unites Us (New York, Simon & Schuster, 2010).
[9] Siehe Jonathan Sacks, The Home We Build Together (London, Continuum, 2007).
[10] Maimonides, Hilchot Teschuwa 3:11.
[11] Andrew Louth, The Origins of the Christian Mystical Tradition from Plato to Denys (Oxford, Oxford University Press, 2007), S. 50.
- Was können wir von Charles Darwin und Alex de Tocqueville über die Entwicklung von Gemeinschaften lernen?
- Inwiefern sind der Schabbat und der Mischkan das Gegenmittel für das Chaos in der Episode mit dem Goldenen Kalb?
- Wie können wir heute, da es keinen Mischkan (oder Tempel) mehr gibt, das gleiche Gegenmittel in unseren Gemeinschaften finden?
Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier