Berejschit 5782
Es gibt Worte, die die Welt verändern, doch keine so sehr wie jene zwei Sätze aus dem ersten Kapitel der Tora:
Und Gott sprach: „Wir wollen Menschen schaffen nach Unserem Abbild, in Unserem Ebenbild, auf dass sie herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh und alle wilden Tiere und über alles Gewürm, das sich auf dem Erdboden regt.“
So schuf Gott die Menschen nach Seinem Abbild,
im Ebenbild Gottes schuf Er sie;
als Mann und Frau schuf Er sie (Gen. 1:26-27).
Die hier dargelegte Idee ist womöglich die revolutionärste in der gesamten Geschichte des moralischen und politischen Denkens. Mit ihrer einzigartigen Betonung des Individuums und der Gleichstellung aller Menschen bildet sie die Grundlage der westlichen Zivilisation. Sie steht hinter Thomas Jeffersons Worten in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: „Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen [und] von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind…“ Diese Wahrheiten sind alles andere als selbstverständlich. Platon hätte sie für absurd gehalten, denn er vertrat die Ansicht, dass die Gesellschaft auf dem Mythos beruhen sollte, dass die Menschen eingeteilt sind in Menschen aus Gold, Silber und Bronze und dass dies ihren Status in der Gesellschaft bestimmt. Aristoteles glaubte, dass einige zum Herrschen und andere zum Beherrschtwerden geboren sind.
Bahnbrechende Äußerungen entfalten ihre Wirkung nicht über Nacht. Wie Rambam im Führer der Unschlüssigen erklärt, brauchen die Menschen lange Zeit, um sich zu verändern. Die Tora funktioniert im Medium der Zeit. Sie hat die Sklaverei nicht abgeschafft, aber sie hat eine Reihe von Entwicklungen in Gang gesetzt – vor allem den Schabbat, an dem alle Machthierarchien außer Kraft gesetzt wurden und auch Sklaven einen Tag in der Woche frei hatten -, die im Laufe der Zeit zwangsläufig zu ihrer Abschaffung führen mussten.
Die Menschen begreifen nur langsam die Tragweite von Ideen. Thomas Jefferson, der Verfechter der Gleichheit, war Sklavenhalter. Die Sklaverei wurde in den Vereinigten Staaten erst in den 1860er Jahren abgeschafft, und das auch nicht ohne Bürgerkrieg. Und wie Abraham Lincoln betonte, beriefen sich in ihrer Sache sowohl die Befürworter als auch die Kritiker der Sklaverei auf die Bibel. Aber schließlich ändern sich die Menschen, und zwar aufgrund der Macht von Ideen, deren Keim vor langer Zeit in den westlichen Geist gesetzt wurden.
Was genau wird im ersten Kapitel der Tora gesagt?
Zunächst einmal ist festzustellen, dass es sich nicht um eine eigenständige Äußerung, einen Bericht ohne Kontext handelt. Vielmehr handelt es sich um eine Polemik, einen Protest gegen eine bestimmte Art, das Universum zu verstehen. In allen antiken Mythen wurde die Welt mit dem Streit der Götter und ihr Ringen um die Vorherrschaft erklärt. Die Tora verwirft diese Art des Denkens voll und ganz. Gott spricht, und das Universum entsteht. Dies war, so Max Weber, der große Soziologe des neunzehnten Jahrhunderts, das Ende des Mythos und die Geburt des westlichen Rationalismus.
Noch wichtiger ist, dass damit eine neue Art des Denkens über das Universum entstand. Sowohl in der antiken Welt der Mythen als auch in der modernen Welt der Wissenschaft ist die Vorstellung von Macht, Kraft und Energie von zentraler Bedeutung. Und von all dem fehlt im ersten Kapitel der Genesis jede Spur. Gott sagt: „Es werde“, und es ist. Hier geht es nicht um Macht, Widerstand, Eroberung oder das Spiel der Kräfte. Stattdessen überrascht das sich siebenmal in der Erzählung wiederholende Schlüsselwort: tow, gut.
Tow ist ein ethisches Wort. Die Tora sagt uns in der Genesis etwas Radikales. Die Realität, zu der die Tora Anleitung ist (das Wort „Tora“ bedeutet selbst Anleitung, Unterweisung, Gesetz), ist moralisch und ethisch. Die Frage, die die Genesis zu beantworten sucht, lautet nicht: „Wie ist das Universum entstanden?“, sondern: „Wie sollen wir leben?“ Dies ist der wichtigste Paradigmenwandel der Tora. Im Universum, das Gott erschaffen hat und das wir bewohnen, geht es nicht um Macht oder Dominanz, sondern um Tow und Ra, um Gut und Böse.[1] Zum ersten Mal wurde Religion in einen ethischen Rahmen gebracht. Gott sorgt sich um Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Treue, Güte, die Würde des Einzelnen und die Heiligkeit des Lebens.
Eben dieser Grundsatz, dass die Genesis eine Polemik darstellt, Teil eines Arguments mit Hintergrund, ist wesentlich für das Verständnis der Vorstellung, dass Gott den Menschen „nach Seinem Abbild, in Seinem Ebenbild“ geschaffen hat. Diese Sprache wäre den ersten Lesern der Tora nicht fremd gewesen. Sie war ihnen wohlbekannt. Sie war in den ersten Zivilisationen, in Mesopotamien und im alten Ägypten, gang und gäbe, wo von bestimmten Menschen gesagt wurde, sie seien nach dem Bilde Gottes geschaffen. Das waren die Könige der mesopotamischen Stadtstaaten und die Pharaonen in Ägypten. Nichts könnte radikaler sein, als zu sagen, dass nicht nur Könige und Herrscher als Ebenbild Gottes erscheinen. Wir alle sind es. Selbst heute ist dieser Gedanke gewagt, umso mehr in einer Zeit der absoluten Herrscher mit absoluter Macht.
So verstanden ist Genesis 1:26-27 nicht so sehr eine metaphysische Aussage über das Wesen des Menschen, sondern ein politischer Protest gegen die Grundlage hierarchischer, klassen- oder kastenbasierter Gesellschaften, ob in der Antike oder in der Neuzeit. Das macht ihn zum aufrührerischsten Gedanken in der Tora. In einem grundlegenden Sinn sind wir alle gleich an Würde und höchsten Wert, denn wir sind alle Gottes Ebenbild, unabhängig von Hautfarbe, Kultur oder Überzeugung.
Ein ähnlicher Gedanke taucht später in der Tora in Bezug auf das jüdische Volk auf, als Gott es auffordert, ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk zu werden (Exod. 19:6). Alle Völker der Antike hatten Priester, aber keines war „ein Königreich von Priestern“. Alle Religionen haben Heilige – aber keine behauptet, dass ein jedes ihrer Mitglieder heilig ist. Auch das brauchte seine Zeit, um Realität zu werden. Während der gesamten biblischen Zeit gab es Hierarchien. Es gab Priester und Hohepriester, eine heilige Elite. Aber nach der Zerstörung des Zweiten Tempels wurde jedes Gebet zu einem Opfer, jeder Vorbeter zu einem Priester und jede Synagoge zu einem Fragment des Tempels. Direkt unter der Oberfläche ist in der Tora ein tiefgreifender Egalitarismus am Werk, und die Rabbiner wussten und lebten ihn.
Ein zweiter Gedanke ist in der Formulierung enthalten: „auf dass sie herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels“. Man beachte, dass hier nicht angedeutet wird, dass irgendjemand das Recht hat, über einen anderen Menschen zu herrschen. So wie der Midrasch auch, erklärt Milton in Das verlorene Paradies, dass dies die Sünde Nimrods war, des ersten großen Herrschers Assyriens und damit auch des Erbauers des Turms von Babel (siehe Gen. 10:8-11). Milton schreibt, dass Adam entsetzt war, als er erfuhr, dass Nimrod sich „unverdient die Herrschaft anmaßte“:
O abscheulicher Sohn, so zu streben
Über seinen Brüdern, sich selbst anmaßend
Autorität an sich reißend, von Gott nicht gegeben:
Er gab uns nur über Tiere, Fische und Vögel
Die absolute Herrschaft; dieses Recht haben wir
Durch seine Schenkung; aber den Menschen über die Menschen
Hat er nicht zum Herrn gemacht; solchen Titel sich selbst
Vorbehaltlich, dass der Mensch vom Menschen frei bleibt.
(Das verlorene Paradies, Buch 12:64-71)
Das Recht der Menschen, über andere Menschen ohne deren Zustimmung zu herrschen, dies in Frage zu stellen, war damals völlig undenkbar. Alle fortgeschrittenen Gesellschaften waren so. Wie hätten sie auch anders sein können? War dies nicht die eigentliche Struktur des Universums? Herrschte nicht die Sonne über den Tag? Herrschte der Mond nicht über die Nacht? Gab es selbst im Himmel nicht eine Hierarchie der Götter? Hier deutet sich bereits die tiefe Ambivalenz an, die die Tora letztlich gegenüber der Institution des Königtums, der Herrschaft „eines Menschen über Menschen“, zeigen wird.
Die dritte Implikation liegt in dem schieren Paradoxon, dass Gott sagt: „Wir wollen Menschen schaffen nach Unserem Abbild, in Unserem Ebenbild“. Wenn wir diese Worte lesen, vergessen wir manchmal, dass Gott im Judentum weder ein Bild noch ein Ebenbild hat. Wer sich ein Bild von Gott macht, verstößt gegen das zweite der Zehn Gebote und macht sich des Götzendienstes schuldig. Moses betonte bei der Offenbarung am Sinai: „Du sahst kein Bildnis, du hörtest nur den Klang der Worte“ (Deut. 4:12).
Gott hat kein Bild, weil Er nicht physisch ist. Er transzendiert das physische Universum, weil Er es geschaffen hat. Deshalb ist Er frei und wird nicht durch die Gesetze der Materie eingeschränkt. Das meint Gott, wenn Er zu Moses sagt, Sein Name sei: „Ich werde sein, was Ich sein werde“ (Exod. 3:14), und später, nach der Sünde des Goldenen Kalbes, wenn Er zu ihm sagt: „Ich werde mich erbarmen, dessen Ich mich erbarmen will.“ Gott ist frei, und als Er uns nach Seinem Bild schuf, gab Er uns auch die Macht, frei zu sein.
Wie die Tora deutlich macht, war diese Gabe Gottes jedoch eine verhängnisvolle. Der Mensch missbraucht die ihm gegebene Freiheit. Adam und Eva gehorchen Gottes Gebot nicht. Kain ermordet Abel. Am Ende der Parascha finden wir uns in einer Welt wieder, die kurz vor der Zerstörung durch die Sintflut steht, denn sie ist so voller Gewalt, dass Gott bereut, die Menschheit überhaupt erschaffen zu haben. Dies ist das zentrale Drama des Tanach und des gesamten Judentums. Werden wir unsere Freiheit nutzen, um die Ordnung zu respektieren, oder werden wir sie missbrauchen, um Chaos zu schaffen? Werden wir das Bild Gottes, das im Herzen und im Geist des Menschen lebt, ehren oder entehren?
Dies sind nicht nur uralte Fragen. Sie sind heute so lebendig wie in der Vergangenheit. Die Frage, die sich ernsthafte Denker stellen – seit Nietzsche dafür plädierte, sowohl Gott als auch die jüdisch-christliche Ethik aufzugeben – ist, ob Gerechtigkeit, Menschenrechte und die unbedingte Würde des Individuums allein auf säkularer Grundlage überlebensfähig sind. Nietzsche selbst dachte das nicht.
Im Jahr 2008 veröffentlichte der Yale-Philosoph Nicholas Woltersdorff ein meisterhaftes Werk, in dem er argumentiert, dass unsere westliche Vorstellung von Gerechtigkeit auf dem Glauben beruht, dass „wir alle von großem und gleichem Wert sind: dem Wert, nach dem Bild Gottes geschaffen zu sein und von Gott erlösend geliebt zu werden“.[2] Er betont, dass es keine säkulare Grundlage gibt, auf der ein ähnlicher Rahmen für Gerechtigkeit aufgebaut werden kann. Das ist gewiss, was John F. Kennedy in seiner Antrittsrede meinte, als er von den „revolutionären Überzeugungen, für die unsere Vorfahren gekämpft haben“, sprach, nämlich dass „die Rechte des Menschen nicht aus der Großzügigkeit des Staates, sondern aus der Hand Gottes kommen“.[3]
Bedeutende Ideen haben den Westen zu dem gemacht, was er ist, Ideen wie die Menschenrechte, die Abschaffung der Sklaverei, die Gleichwertigkeit aller Menschen und die Gerechtigkeit, die auf dem Grundsatz beruht, dass das Recht über der Macht steht.[4] All diese Ideen gehen letztlich auf die Aussage im ersten Kapitel der Tora zurück, dass wir nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen sind. Kein anderer Text hat einen größeren Einfluss auf das moralische Denken gehabt, und keine andere Zivilisation hat jemals eine höhere Vision von unserer Aufgabe und Berufung gehabt.
[1] Was ich unter der Geschichte von Adam und Eva und dem Baum der Erkenntnis verstehe, wird ein anderes Mal erörtert werden müssen. In der Zwischenzeit siehe Maimonides, Führer der Unschlüssigen, Buch 1, Kapitel 2.
[2] Nicholas Woltersdorff, Justice: Rights and Wrongs (Princeton, NJ, Princeton University Press, 2008), S. 393.
[3] John F. Kennedys Antrittsrede, Washington, DC, 20. Januar 1961.
[4] Lesen Sie Rabbi Sacks‘ Einleitung zu seinen Essays on Ethics, um seinen weiterführenden Gedanken zu diesem Begriff zu verfolgen.
- Was, glauben Sie, will die Tora uns mit dem Konzept vermitteln, dass wir alle „nach dem Bilde Gottes“ geschaffen wurden?
- Was war an dieser Idee zu biblischen Zeiten revolutionär? Ist es immer noch eine radikale Idee?
- Wie wirkt sich dieser Gedanke auf die Art und Weise aus, wie wir als Juden in der Praxis leben?
Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier