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Wenn Sie einmal nach Washington fahren, besuchen Sie auch unbedingt die Denkmäler, und Sie werden eine faszinierende Entdeckung machen. Beginnen Sie beim Abraham Lincoln Memorial, mit der riesigen Statue des Mannes, der dem Bürgerkrieg die Stirn bot und das Ende der Sklaverei verkündete. Auf der einen Seite lesen wir Lincolns Gettysburg-Rede, dieses Meisterwerk an bündiger Sprache, endend mit dem Aufruf zur „Wiedergeburt der Freiheit“. Auf der anderen Seite steht die großartige Rede, die er anlässlich seiner zweiten Amtseinführung hielt und deren versöhnende Botschaft lautet: „Mit Bosheit gegenüber niemanden, mit Nächstenliebe für alle, mit Festigkeit im Recht, wie Gott uns das Recht erkennen lässt…“ Gehen Sie dann zum Potomac-Becken hinunter, stoßen Sie auf das Martin Luther King Jr. Memorial mit den sechzehn Zitaten dieses großen Kämpfers für die Bürgerrechte, darunter seine Aussage von 1963: „Dunkelheit kann die Dunkelheit nicht vertreiben, nur das Licht ist dazu imstande. Hass kann den Hass nicht vertreiben, nur die Liebe vermag dies.“ Und aus der I Have a Dream-Rede ein Satz, der dem gesamten Denkmal seinen Namen gibt: „Aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung.“
Wenn Sie die von Bäumen gesäumte Allee am Wasser entlang weitergehen, gelangen Sie zum Franklin Delano Roosevelt Memorial, das aus vier unterschiedlichen Bereichen besteht, einer für jedes Jahrzehnt seiner öffentlichen Laufbahn und jeder mit einer Passage aus einer seiner prägenden Reden. Darunter der berühmte Satz: „Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst.“
Am südlichen Rand des Beckens befindet sich schließlich ein griechischer Tempel, der dem Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, Thomas Jefferson, gewidmet ist. Um die Kuppel herum stehen die Worte, die er an Benjamin Rush schrieb: „Am Altar Gottes habe ich jeder Form der Tyrannei über den menschlichen Geist ewige Feindschaft geschworen.“ Den kreisförmigen Raum bestimmen vier Tafeln, die jeweils ausführliche Zitate aus Jeffersons Schriften enthalten, eines aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung selbst, ein weiteres, das mit den Worten beginnt: „Der allmächtige Gott hat den Geist frei geschaffen“, und ein drittes: „Gott, der uns das Leben gab, hat uns zugleich die Freiheit gegeben. Können die Freiheiten einer Nation aber sicher sein, wenn wir die Überzeugung abgelegt haben, dass diese Freiheiten ein Geschenk Gottes sind?“
Jedem dieser vier Denkmäler liegt ein Text zugrunde, und jedes erzählt eine Geschichte.
Man stelle nun den Vergleich mit den Denkmälern in London an, vor allem mit denen auf dem Parliament Square: Das Denkmal für den ehemaligen Premierminister David Lloyd George enthält drei Worte: David Lloyd George. Auf dem Denkmal für Nelson Mandela stehen zwei Wörter: Nelson Mandela, und auf dem Denkmal für Winston Churchill nur ein einziges: Churchill. Winston Churchill war ein Mann der Worte, in seinem frühen Leben Journalist, später Historiker und Autor von nahezu fünfzig Büchern. Er erhielt einen Nobelpreis, nicht etwa den Friedensnobelpreis, sondern den für Literatur. Er hielt so viele Reden und prägte so viele unvergessliche Sätze wie Jefferson oder Lincoln, Roosevelt oder Martin Luther King Jr., aber keiner seiner Aussprüche ist auf dem Sockel unter seiner Statue eingraviert. Nur sein Name erinnert an ihn.
Der Unterschied zwischen den amerikanischen und den britischen Denkmälern ist unübersehbar. Der Grund ist, dass Großbritannien und die Vereinigten Staaten sich in ihren politischen und moralischen Kulturen wesentlich voneinander abheben. England ist, oder war es bis vor kurzem, eine Traditionsgesellschaft. In solchen Gesellschaftsformen sind die Dinge so, wie sie sind, weil sie „seit Menschengedenken“ schon immer so waren. Unnötig, nach dem Warum zu fragen. Diejenigen, die dazugehören, wissen es. Diejenigen, die danach fragen, zeigen nur, dass sie nicht dazugehören.
Die amerikanische Gesellschaft ist anders, weil sie, ausgehend von den Pilgervätern, auf dem Konzept des Bundes basiert, wie es im Tanach, insbesondere in Exodus und Deuteronomium, dargelegt ist. Die frühen Siedler waren Puritaner, die in der Tradition des Calvinismus standen, der das Christentum am weitesten dazu führte, seine Politik auf die Grundlage der hebräischen Bibel zu stützen. Bündnisgesellschaften beruhen nicht auf Traditionen. Die Puritaner waren wie die Israeliten dreitausend Jahre zuvor Revolutionäre, die versuchten, eine neue Art von Gesellschaft zu schaffen, die sich von der ägyptischen oder – im Falle Amerikas – von der englischen unterscheidet. Michael Walzer schrieb ein Buch über die Politik der Puritaner im siebzehnten Jahrhundert mit dem Titel: The Revolution of the Saints.[1] Ihr Ziel war es, die Tradition zu stürzen, die Königen absolute Macht verlieh und etablierte Klassenhierarchien pflegte.
Bündnisgesellschaften stellen immer einen bewussten Neuanfang einer Gruppe von Menschen dar, die sich einem Ideal verschrieben haben. Die Geschichte der Gründungsväter, die Reise, die sie unternommen haben, die Hindernisse, die sie überwinden mussten, und die Vision, die sie antrieb, sind wesentliche Elemente einer Bündniskultur. Die Geschichte weiterzuerzählen, sie an die Kinder weiterzugeben und sich der Fortführung des Werks zu widmen, das frühere Generationen begonnen haben, ist für das Ethos einer solchen Gesellschaft von grundlegender Bedeutung. Eine auf dem Bündnisgedanken beruhende Nation ist nicht einfach da, weil sie da ist. Sie existiert, um eine moralische Vision zu verwirklichen. Das ist es, was G. K. Chesterton dazu veranlasste, die Vereinigten Staaten eine Nation „mit der Seele einer Kirche“ zu nennen,[2] die einzige in der Welt, „die sich auf einem Glaubensbekenntnis begründet“[3] (Chestertons Antisemitismus hinderte ihn daran, die wahre Quelle der politischen Philosophie Amerikas zu benennen: die hebräische Bibel).
Die Tradition des Geschichtenerzählens als wesentlicher Bestandteil der moralischen Erziehung beginnt in unserem Wochenabschnitt. Es ist zutiefst bemerkenswert, wie Moses unmittelbar vor dem Exodus dreimal in die Zukunft blickt und auf die Pflicht der Eltern hinweist, ihre Kinder über die Geschichte zu erziehen, die sich in Kürze vor ihnen vollstrecken wird: „Wenn eure Kinder euch fragen: ,Was ist das für eine gottesdienstliche Feier‘, sollt ihr antworten: ,Ein Überschreitungsopfer ist es dem Ewigen, der in Ägypten über die Häuser der Israeliten hinwegging, als er die Ägypter schlug, unsere Häuser aber verschonte‘“ (Exod. 12:25-27). „An diesem Tag sollst du deinem Kind erzählen: ,Es ist um dessentwillen, was Gott für mich getan, als ich aus Ägypten zog‘“ (Exod. 13:8). „Dein Kind wird dich vielleicht später fragen: ,Was bedeutet dies?‘ so antworte ihm: ,Mit mächtiger Hand hat Gott uns aus Ägypten, dem Ort der Sklaverei, herausgeführt‘“ (Exod. 13:14).
Dies ist wirklich außergewöhnlich. Die Israeliten sind noch nicht in das gleißende Licht der Freiheit getreten. Sie sind immer noch Sklaven. Doch schon jetzt lenkt Moses ihren Blick in die ferne Zukunft und überträgt ihnen die Verantwortung, ihre Geschichte an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Es ist, als ob Moses sagen würde: Wenn ihr vergesst, woher ihr kommt und warum, werdet ihr schließlich eure Identität, eure Kontinuität und eure Daseinsberechtigung verlieren. Ihr werdet euch nur noch als Angehörige eines Volkes unter anderen Völkern betrachten, als eine ethnische Gruppe unter vielen anderen. Wenn man die Geschichte der Freiheit vergisst, verliert man schließlich die Freiheit selbst.
Selten haben Philosophen über die Bedeutung des Geschichtenerzählens für das moralische Leben geschrieben. Und doch ist es das, was uns zu den Menschen macht, die wir sind. Die große Ausnahme unter den modernen Philosophen war Alasdair MacIntyre, der in seinem Klassiker Der Verlust der Tugend schrieb: „Ich kann die Frage ,Was soll ich tun?‘ nur beantworten, wenn ich die vorherige Frage ,Von welcher Geschichte oder welchen Geschichten bin ich ein Teil?‘ beantworten kann.“ Beraubt man Kinder ihrer Geschichten, so MacIntyre, bleiben sie „verängstigte Stotterer, in ihren Handlungen wie in ihren Worten“.[4]
Niemand verstand dies besser als Moses, der wusste, dass es ohne eine bestimmte Identität nahezu unmöglich ist, nicht der Götzenverehrung der Zeit zu verfallen. Als jüngste Beispiele seien hier nur genannt: Rationalismus, Idealismus, Nationalismus, Faschismus, Kommunismus, Postmoderne, Relativismus, Individualismus, Hedonismus oder Konsumismus. Die Alternative, eine Gesellschaft, die sich allein auf die Tradition stützt, bricht zusammen, sobald der Respekt vor der Tradition stirbt, was immer irgendwann der Fall ist.
Identität ist immer etwas Besonders. Sie beruht auf der Erzählung, auf der fortlaufenden Geschichte, die mich mit der Vergangenheit verbindet, mich in der Gegenwart leitet und mir die Verantwortung für die Zukunft auferlegt. Und keine Geschichte war, zumindest im Westen, einflussreicher als die des Exodus, die Erinnerung daran, dass die höchste Macht in die Geschichte eingriff, um die vollkommen Machtlosen zu befreien, zusammen mit dem darauf folgenden Bund, in dem sich die Israeliten mit dem Versprechen an Gott banden, eine Gesellschaft zu schaffen, die das Gegenteil von Ägypten sein würde, eine Gesellschaft, in der der Einzelne als das Ebenbild Gottes respektiert wird, in der an einem aus den sieben Tagen der Woche alle Machthierarchien aufgehoben sind und Würde und Gerechtigkeit allen gleichermaßen zuteil werden. Wir haben diesen idealen Zustand nie ganz erreicht, aber wir haben niemals aufgehört, darauf hinzuarbeiten, und immer geglaubt, dass er uns am Ende der Reise erwartet.
„Die Juden haben schon immer Geschichten für uns Übrigen gehabt“, sagte der politische Korrespondent der BBC, Andrew Marr.[5] Gott hat den Menschen geschaffen, schrieb Elie Wiesel einmal, weil Gott Geschichten liebt.[6] Was andere Kulturen durch Systeme durchgesetzt haben, haben die Juden durch Geschichten erreicht. Und im Judentum werden die Geschichten nicht auf Denkmälern in Stein gemeißelt, so großartig das auch sein mag. Sie werden zu Hause erzählt, am Tisch, von Eltern zu Kindern, als Geschenk der Vergangenheit an die Zukunft. Auf diese Weise wurde das Geschichtenerzählen im Judentum weiterentwickelt, domestiziert und demokratisiert.
Nur die grundlegendsten Elemente der Moral sind universell: „schwer festzulegende“ Abstraktionen wie Gerechtigkeit oder Freiheit haben für verschiedene Menschen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Bedeutungen. Aber wenn wir wollen, dass unsere Kinder und unsere Gesellschaft von Moral geprägt sind, brauchen wir eine kollektive Geschichte, die uns sagt, woher wir kommen und worin unsere Aufgabe in der Welt besteht. Die Geschichte des Exodus, vor allem wie sie zu Pessach am Seder-Tisch erzählt wird, ist immer dieselbe und doch immer anders, eine fast unendliche Reihe von Variationen eines einzigen Themenkomplexes, den ein jeder von uns auf eine ihm eigene Weise verinnerlicht, den wir jedoch alle als Mitglieder derselben historisch gewachsenen Gemeinschaft teilen.
Es gibt Geschichten, die uns erheben, und andere, die uns verkümmern lassen und uns zu Gefangenen alter Missstände oder unmöglicher Ziele machen. Die jüdische Geschichte ist auf ihre Weise die älteste von allen und doch immer jung, und wir alle sind ein Teil von ihr. Sie sagt uns, wer wir sind und worauf unsere Vorfahren hofften, was wir eines Tages sein würden. Das Erzählen von Geschichten ist das große Instrument jeder moralischen Erziehung. Die Tora hat erkannt, dass ein Volk, das seinen Kindern die Geschichte der Freiheit und ihrer Verantwortung erzählt, so lange frei bleiben wird, wie Menschen leben, atmen und hoffen.
[1] The Revolution of the Saints: A Study in the Origins of Radical Politics (Cambridge, Massachusetts, Harvard University Press, 1965).
[2] What I Saw in America (New York, Dodd, Mead and Company, 1922), S. 10.
[3] Ibid., S. 7.
[4] Siehe Alasdair MacIntyre, After Virtue: A Study in Moral Theory (Notre Dame, Indiana, University of Notre Dame Press, 2007), S. 216. Deutsche Ausgabe: Der Verlust der Tugend: Zur moralischen Krise der Gegenwart (Campus Bibliothek, 2006).
[5] Andrew Marr, The Observer, Sonntag, 14. Mai 2000.
[6] Elie Wiesel, Die Pforten des Waldes (Ullstein Verlag, 1986), Vorwort.
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