Eine der Gaben großer Führungspersönlichkeiten, von der jeder von uns lernen kann, besteht in ihrer Fähigkeit, die Realität für ihre Gruppe in einen Deutungsrahmen einzuordnen: Sie definieren die Situation ihrer Gruppe. Sie benennen ihre Ziele. Sie artikulieren ihre Optionen. Sie sagen uns auf eine Weise, wie kein Satellitennavigationssystem es vermag, an welchem Punkt wir stehen und wohin wir gehen. Sie zeigen uns die Karte und benennen das Ziel, und sie helfen uns zu erkennen, warum wir diesen und nicht jenen Weg wählen sollten. Dies ist eine ihrer gebieterischsten Rollen, und niemand hat dem so eindrucksvoll entsprochen wie Moses im Buch Deuteronomium.
So tut er es am Anfang der Parascha dieser Woche:
Seht, ich lege euch heute Segen und Fluch vor – den Segen, so ihr die Gebote des Ewigen, eures Gottes, die ich euch heute gebe, befolgt; den Fluch aber, wenn ihr die Gebote des Ewigen, eures Gottes, missachtet und von dem Weg weichet, den ich euch heute gebiete, wenn ihr fremden Göttern nachgeht, die ihr nie gekannt habt (Deut. 11:26-28).
Noch eindringlicher formuliert es Moses später im Buch:
Siehe, ich lege dir heute das Leben und das Gute, den Tod und das Böse vor… Ich rufe heute gegen euch Himmel und Erde als Zeugen an, dass ich dir das Leben und den Tod, den Segen und den Fluch vorgelegt habe. So wähle denn das Leben, auf dass du leben bleibest, du und deine Nachkommen. (Deut. 30:15, 19).
Moses definiert hier die Realität für die nächste Generation und für alle künftigen Generationen. Er tut dies als Vorwort zu dem, was in den kommenden Kapiteln folgt, nämlich eine erneute systematische Formulierung des jüdischen Gesetzes, das alle Aspekte des Lebens für die neugegründete Nation in ihrem Land umfasst.
Moses will nicht, dass das Volk von den Details überwältigt den Überblick verliert. Das jüdische Gesetz mit seinen 613 Geboten ist detailliert. Es ist auf die Heiligung aller Aspekte des Lebens ausgerichtet, vom täglichen Ritual bis hin zur Struktur der Gesellschaft und ihrer Institutionen. Es zielt darauf ab, eine soziale Welt zu gestalten, in der wir selbst scheinbar weltliche Ereignisse in Begegnungen mit der göttlichen Allgegenwart verwandeln. Trotz aller Details, sagt Moses, ist die Entscheidung, die ich euch vorlege, eigentlich ganz einfach.
Wir, sagt er der nächsten Generation, sind einzigartig. Wir sind ein kleines Volk. Wir haben weder die Zahl an Menschen noch den Reichtum noch die hochentwickelten Waffen der großen Imperien. Wir sind kleiner als viele unserer Nachbarländer. Bis jetzt haben wir noch nicht einmal ein Land. Aber wir sind anders, und dieser Unterschied definiert ein für alle Mal das Wesen und den Sinn unserer Existenz. Gott hat beschlossen, uns zu seinem Anteil an der Geschichte zu machen. Er hat uns aus der Sklaverei befreit und uns zu Partnern seines Bundes gemacht.
Dies geschieht nicht aufgrund unserer Verdienste. „Nicht wegen deiner Rechtschaffenheit oder deiner Aufrichtigkeit kommst du, um ihr Land in Besitz zu nehmen“ (Deut. 9:5). Wir sind nicht gerechter als andere, sagte Moses. Sondern weil unsere Vorfahren – Abraham, Isaak, Jakob, Sara, Rebekka, Rachel und Lea – die Ersten waren, die dem Ruf des einen Gottes gefolgt sind und ihn verehrt haben, nicht die Natur, sondern den Schöpfer der Natur, nicht Macht, sondern Gerechtigkeit und Mitgefühl, nicht Hierarchie, sondern eine Gesellschaft mit gleicher Würde, die auch die Witwe, die Waise und den Fremden einschließt.
Glaubt nicht, sagt Moses, dass wir als Volk unter Völkern überleben können, indem wir das verehren, was sie verehren, und leben, wie sie leben. So wir dies tun, werden wir dem universellen Gesetz unterliegen, das das Schicksal der Nationen von den Anfängen der Zivilisation bis heute bestimmt hat: Völker werden geboren, sie wachsen und blühen auf; dann werden sie selbstgefällig, dann korrupt, dann gespalten, dann geschlagen, und schließlich gehen sie unter, um nur noch in Geschichtsbüchern und Museen in Erinnerung zu verbleiben. Im Falle Israels, das klein und äußerst verwundbar ist, würde dieses Schicksal eher früher als später eintreten. Das ist es, was Moses „den Fluch“ nennt.
Die Alternative ist einfach – auch wenn sie eine umfassende Herausforderung darstellt. Sie bedeutet, dass wir Gott als unseren König anerkennen, als Richter unserer Taten, als unseren Gesetzgeber, als Urheber unserer Freiheit, als Verteidiger unseres Schicksals, als Objekt unserer Anbetung und Liebe. Wenn wir unsere Existenz auf etwas, auf den Einen gründen, der viel größer ist als wir selbst, dann werden wir höher emporgehoben, als wir es aus eigener Kraft erreichen würden. Aber das erfordert absolute Treue zu Gott und seinem Gesetz. Nur so können wir Verfall, Niedergang und Niederlage vermeiden.
An dieser Vision ist nichts Puritanisches. Zwei der Schlüsselworte des fünften Buchs Moses sind Liebe und Freude. Das Wort „Liebe“ (mit dem Wortstamm a-h-w) erscheint zweimal im Exodus, zweimal im Levitikus, an keiner Stelle in Numeri, aber 23 Mal im Deuteronomium. Das Wort „Freude“ (mit dem Wortstamm s-m-ch) erscheint nur einmal in der Genesis, einmal in Exodus, einmal in Levitikus, einmal in Numeri, aber 12 Mal im Deuteronomium. Moses verschweigt jedoch nicht, dass das Leben unter dem Bund fordernd sein wird. Weder Liebe noch Freude kommen auf sozialer Ebene ohne Selbstbeschränkung und Engagement für das Gemeinwohl aus.
Moses weiß, dass die Menschen oft kurzfristig denken und handeln, das heutige Vergnügen dem morgigen Glück vorziehen, den persönlichen Vorteil dem Wohl der Gesellschaft als Ganzes. Sie tun törichte Dinge, individuell und kollektiv. Deshalb betont er in Dewarim immer wieder, dass der Weg zum langfristigen Gedeihen – zum „Guten“, zum „Segen“, zum Leben selbst – darin besteht, eine einfache Entscheidung zu treffen: Akzeptiere Gott als deinen Souverän, handle nach Seinem Willen, und der Segen wird folgen. Wenn nicht, wirst du früher oder später unterworfen und zerstreut, und du wirst mehr leiden, als du dir vorstellen kannst. So definierte Moses die Realität für die Israeliten seiner Zeit und aller Zeiten.
Was hat das mit Führung zu tun? Die Antwort ist, dass die Bedeutung von Ereignissen nie klar erkennbar ist. Sie bedarf immer der Interpretation. Manchmal, aus Dummheit, Angst oder mangelnder Vorstellungskraft, liegen Führungskräfte auch falsch. Neville Chamberlain definierte die Herausforderung der Machtübernahme durch Nazi-Deutschland als die Suche nach „Frieden in unserer Zeit“. Es bedurfte eines Churchill, um zu erkennen, dass dies falsch war und dass die wahre Herausforderung in der Verteidigung der Freiheit gegen die Tyrannei bestand.
Zu Abraham Lincolns Zeiten gab es jede Menge Befürworter und Gegner der Sklaverei, aber erst Lincoln verstand es, die Abschaffung der Sklaverei als notwendigen Schritt zur Erhaltung der Union zu definieren. Es war diese größere Vision, die ihn bei seiner zweiten Amtseinführung zu den Worten beflügelte: „Mit Bosheit gegenüber niemanden, mit Nächstenliebe für alle, mit Festigkeit im Recht, wie Gott uns das Recht erkennen lässt, lasst uns bestrebt sein, das Werk, das wir begonnen haben, zu vollenden, die Wunden der Nation zu verbinden.“[1] Er ließ weder zu, dass die Abschaffung der Sklaverei selbst noch das Ende des Bürgerkriegs als Sieg der einen Seite über die andere angesehen wurde, sondern definierte stattdessen beides als Sieg für die Nation als Ganzes.
In meinem Buch über Religion und Wissenschaft, The Great Partnership,[2] habe ich dargelegt, dass es einen Unterschied zwischen der Ursache einer Sache und ihrer Bedeutung gibt. Die Suche nach Ursachen ist die Aufgabe der Erklärung. Die Suche nach dem Sinn ist das Werk der Interpretation. Die Wissenschaft kann wohl erklären, aber sie kann nicht interpretieren. Waren die Zehn Plagen in Ägypten eine natürliche Abfolge von Ereignissen oder eine göttliche Strafe oder beides? Es gibt kein wissenschaftliches Experiment, das diese Frage klären könnte. War die Teilung des Schilfmeeres ein göttliches Eingreifen in die Geschichte oder war sie auf einen ungewöhnlichen Ostwind zurückzuführen, der ein überflutetes, uraltes Flussufer freilegte? War der Exodus ein Akt der göttlichen Befreiung oder eine Reihe glücklicher Zufälle, die einer Gruppe flüchtiger Sklaven die Flucht ermöglichten? Wenn alle kausalen Erklärungen gegeben sind, bleibt das Wesen des Wunders – ein epochales Ereignis, in dem wir die Hand Gottes erkennen – bestehen. Kultur ist nicht Natur. In der Natur gibt es Ursachen, aber nur in der Kultur gibt es Bedeutungen. Der Homo sapiens ist in einzigartiger Weise das kulturschaffende, sinnsuchende Tier, und das wirkt sich auf alles aus, was wir tun.
Viktor Frankl pflegte zu betonen, dass unser Leben nicht von dem bestimmt wird, was uns widerfährt, sondern von unserer Reaktion auf das, was uns widerfährt – und wie wir reagieren, hängt von unserer Interpretation der Ereignisse ab. Ist diese Katastrophe das Ende meiner Welt, oder ist es das Leben, das mich auffordert, heroische Stärke zu zeigen, damit ich überleben und anderen helfen kann, zu überleben? Dieselben Umstände können von zwei Menschen ganz unterschiedlich interpretiert werden: Während sie den einen zur Verzweiflung führen, befähigen sie einen anderen zu heldenhafter Ausdauer. Die Fakten mögen dieselben sein, aber die Bedeutungen sind diametral verschieden. Die Art und Weise, wie wir die Welt interpretieren, wirkt sich darauf aus, wie wir auf die Welt reagieren, und es sind unsere Reaktionen, die unser Leben individuell und kollektiv prägen. Deshalb, so Max De Pree, „besteht die erste Aufgabe einer Führungspersönlichkeit darin, die Realität zu definieren“.[3]
In jeder Familie, jeder Gemeinschaft und jeder Organisation gibt es Prüfungen, Herausforderungen und Schwierigkeiten. Die Frage ist, ob diese zu Streit, Schuldzuweisungen und Vorwürfen führen? Oder versteht die Gruppe sie im Sinne der Vorsehung, als einen Weg zu einem zukünftigen Guten (ein „Abstieg, der zu einem Aufstieg führt“, wie der Lubawitscher Rebbe zu sagen pflegte)? Arbeitet sie zusammen, um die Herausforderung zu meistern? Vieles, vielleicht alles, wird davon abhängen, wie die Gruppe ihre Realität definiert. Dies wiederum hängt von der Führung ab, die sie bisher hatte, oder dem Mangel an Führung. Familien und Gemeinschaften mit festem Zusammenhalt haben ein klares Gespür für ihre Ideale und lassen sich von den Winden des Zeitenwandels nicht aus der Bahn werfen.
Keiner hat dies eindringlicher vor Augen geführt als Moses, indem er die Frage der Entscheidung mit größter Klarheit formulierte: zwischen Gut und Böse, Leben und Tod, Segen und Fluch, zwischen der Loyalität zu Gott einerseits und der Entscheidung für die Werte benachbarter Zivilisationen andererseits. Diese Klarheit ist der Grund dafür, dass es die Hethiter, Kanaaniter, Perisiter und Jebusiter nicht mehr gibt, während das Volk Israel trotz einer beispiellosen Geschichte von wechselhaften Umständen weiterhin besteht.
Wer sind wir? Wo stehen wir? Was wollen wir vollbringen und was für ein Volk erhoffen wir zu sein? Dies sind die Fragen, bei deren Formulierung und Beantwortung eine Führungspersönlichkeit behilflich ist, und wenn eine Gruppe dies gemeinsam unternimmt, ist sie mit außergewöhnlicher Widerstandsfähigkeit und Stärke gesegnet.
[1] Abraham Lincoln, Zweite Antrittsrede (Kapitol der Vereinigten Staaten, 4. März 1865).
[2] The Great Partnership: Science, Religion, and the Search for Meaning (New York, Schocken Books, 2011).
[3] Max De Pree, Leadership is an Art (New York, Doubleday, 1989), S. 11.