Führung im Kontrapunkt
Tezawe 5781
Einer der wichtigsten jüdischen Beiträge zu unserem Verständnis von Führung ist das frühe Beharren auf dem, was Montesquieu im 18. Jahrhundert als „Gewaltenteilung“1 bezeichnete. Weder Autorität noch Macht sollten in einer einzigen Person oder einem einzelnen Amt konzentriert sein. Stattdessen sollte die Führung sich auf verschiedene Funktionsträger verteilen.
Eine der wichtigsten Spaltungen, die um Jahrtausende die „Trennung von Kirche und Staat“ vorwegnahmen, war die zwischen dem König, dem Staatsoberhaupt, einerseits und dem Hohepriester, dem höchsten religiösen Amt, andererseits.
Das war revolutionär. Die Könige der mesopotamischen Stadtstaaten und die Pharaonen Ägyptens galten als Halbgötter oder Hauptvermittler zwischen Mensch und Göttern. Sie amtierten zu hohen religiösen Festen und wurden als die Vertreter des Himmels auf Erden angesehen.
Im Judentum hingegen hatte die Monarchie eher eine geringe oder gar keine religiöse Bedeutung (abgesehen von der allsiebenjährigen Vorlesung des Königs aus dem Buch des Bundes in Erfüllung des als
Hakhel bekannten Rituals). In der Tat bestand der größte Einwand der Weisen gegen die hasmonäischen Könige darin, dass sie gegen diese alte Regel verstießen und einige unter ihnen sich selbst zu Hohepriestern erklärten. Der Talmud hält den Einwand fest: „Soll dir doch die Krone des Königtums genügen. Überlasse die Krone des Priestertums den Söhnen Aarons “ (Kiduschin 66a). Dieses Prinzip hatte zur Folge, dass Macht säkularisiert wurde.2
Ebenso grundlegend war die Aufteilung der religiösen Führung selbst in zwei unterschiedliche Funktionen: die des Propheten und die des Priesters. Dies wird in unserem Wochenabschnitt in Szene gesetzt, der den Fokus ganz auf die Rolle des Priesters unter Ausschluss des Propheten richtet. Tezawe ist die erste Parascha im Buch Exodus, in welcher Moses’ Name ganz fehlt. Das Wesen des Wochenabschnitts scheint eher „priesterlich“ als „prophetisch“ zu sein.
Die Rolle des Priesters unterschied sich von der des Propheten deutlich, obwohl einige Propheten – Hesekiel wäre hierfür das bekannteste Beispiel – auch Priester waren. Die Hauptunterschiede waren:
- Das Amt des Priesters wurde dynastisch vererbt, die Rolle des Propheten hingegen ergab sich aus seiner Persönlichkeit. Priester waren die Söhne Aarons, sie wurden in ihre Aufgabe hineingeboren. Für den Propheten war seine eigene Abstammung jedoch nicht von Bedeutung. Die Kinder von Moses waren selbst keine Propheten.
- Der Priester trug Amtsgewänder, wohingegen es für einen Propheten keine offiziellen Roben gab.
- Das Priestertum oblag ausschließlich den männlichen Nachkommen; nicht so die Prophetie. Der Talmud nennt sieben Frauen, die mit der Gabe der Prophetie gesegnet waren: Sara, Miriam, Debora, Hanna, Abigail, Hulda und Esther.
- Die Rolle des Priesters hat sich im Laufe der Zeit nicht geändert. Der Opferdienst unterlag einem genauen unverrückbaren jährlichen Zeitplan. Im Gegensatz dazu kannte der Prophet seine Mission nicht, bis Gott ihm dieselbe offenbarte. Prophezeiung war nie eine Routineangelegenheit.
- Infolgedessen hatten Prophet und Priester ein unterschiedliches Zeitempfinden. Der Priester empfand Zeit eher im Sinne Platons: als das „bewegte Bild der Ewigkeit“3, der ewigen Wiederholung und Rückkehr. Der Prophet hingegen lebte mit einem historischen Zeitverständnis. Seine Erfahrung der Gegenwart war nicht gleich der von gestern, und morgen würde es wieder eine andere sein. Priester vernahmen das Wort Gottes für alle Zeiten, Propheten hörten es auf die Gegenwart bezogen.
- Der Priester war „heilig“ und deshalb vom Volk getrennt. Er musste sein Essen in einem Zustand der rituellen Reinheit verzehren und den Kontakt mit den Toten vermeiden. Im Gegensatz dazu lebte der Prophet oft mitten unter den Menschen und sprach in einer ihnen verständlichen Sprache. Propheten könnten jeder sozialen Klasse entstammen.
- Die Schlüsselwörter für den Priester waren tahor, tamei, kodesh und chol: „rein“, „unrein“, „heilig“ und „profan“. Die des Propheten waren Zedek, Mischpat, Chessed und Rachamim: „Gerechtigkeit“, „Rechtsprechung“, „Liebe“ und „Mitgefühl“. Damit ist nicht gesagt, dass geistig-moralische Werte ausschließlich Aufgabe der Propheten waren und Priester sich nicht mit Fragen der Moral befassten. Einige der wichtigsten moralischen Gebote wie: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ stammt aus den priesterlichen Abschnitten der Tora. Priester denken vielmehr in einer in die Struktur der Realität eingebetteten moralischen Ordnung, welche manchmal auch als „heilige Ontologie“4 bezeichnet wird. Propheten neigten weniger dazu, sich mit Dingen oder
Handlungen an sich zu befassen, sondern sahen eher die Beziehungen zwischen Personen oder sozialen Schichten.
- Die Aufgabe des Priesters ist die Aufrechterhaltung der Grenzen. Die zentralen priesterlichen Schlagworte sind lehavdil und lehorot, eine Sache von der anderen zu unterscheiden und die entsprechenden Regeln anzuwenden. Priester gaben Entscheidungen kund, Propheten Warnungen.
- Die Rolle eines Priesters hat nichts Persönliches. Wenn ein Priester – selbst der Hohepriester – bei einer priesterlichen Aufgabe nicht amtieren konnte, wurde ein anderer an seiner Stelle eingesetzt. Prophezeiung war im Wesentlichen persönlich. Die Weisen sagten, dass „keine zwei Propheten im gleichen Stil prophezeiten“ (Sanhedrin 89a). Hosea war nicht Amos, Jesaja nicht Jeremia. Jeder Prophet hatte eine eigene Stimme.
- Priester bildeten eine religiöse Oberschicht. Propheten, zumindest diejenigen, deren Botschaften im Tanach verewigt wurden, waren nicht Vertreter der etablierten Ordnung, sondern eher ein Anti-Establishment, das die bestehenden Mächte kritisierte.
Im Laufe der Zeit unterlagen die Rollen von Priester und Prophet Veränderungen. Die Priester haben immer beim Opferdienst im Tempel amtiert. Sie waren aber auch Richter. Die Tora sagt, wenn ein Fall zu schwierig ist, um vom örtlichen Gericht gehört zu werden, solle man „zu den Priestern, Leviten und Richtern gehen, welche zu diesem Zeitpunkt im Amt sind. Frage sie und sie werden dir das Urteil geben “(Deut. 17:9). Moses segnet den Stamm Levi: „Sie werden Jakob deine Verordnungen und Israel deine Tora lehren“ (Deut. 33:10), was nahelegt, dass sie auch die Rolle eines Lehrers hatten.
Malachi, ein Prophet aus der Zeit des Zweiten Tempels, verkündet: „Denn des Priesters Lippen sollten Wissen bewahren, ist er doch der Gesandte des Allmächtigen, und die Menschen wollen aus seinem Munde unterwiesen werden“ (Mal. 2:7). Der Priester war Hüter der heiligen Gesellschaftsordnung Israels. Dennoch sehen wir im Tanach wiederholt, dass das Priestertum der Korruption ausgesetzt war. So gab es Zeiten, in denen Priester Bestechungsgelder annahmen oder sie den jüdischen Glauben untergruben und selbst Götzen dienten. Zuweilen mischten sie sich in politische Fragen ein. Einige verstanden sich als eine vom gewöhnlichen Volk weit entfernt lebende Elite und betrachteten die Menschen mit Verachtung.
In solchen Zeiten war der Prophet die Stimme Gottes, das Gewissen der Gesellschaft, und erinnerte die Menschen an ihre geistige Aufgabe und moralische Berufung. Er forderte das Volk auf, zurückzukehren, Buße zu tun, und er erinnerte die Menschen an ihre Pflichten gegenüber Gott und ihren Mitmenschen. Der Prophet warnte vor den Konsequenzen, sollten sie die göttliche Ermahnung nicht beachten.
Das Priestertum wurde während der hellenistischen Ära massiv politisiert und korrumpiert, insbesondere unter den Seleukiden im zweiten Jahrhundert vor der gewöhnlichen Zeitrechnung. Hellenisierte Hohepriester wie Jason und Menelaus führten götzendienerische Bräuche ein und brachten selbst eine Statue des Zeus in den Tempel. Dies führte schließlich zu einem Aufstand, dessen Ereignissen wir zu Chanuka gedenken.
Doch ungeachtet der Tatsache, dass der Initiator des Aufbegehrens, Matitjahu, selbst ein gottesfürchtiger Priester war, trat unter den Königen der Hasmonäer erneut Korruption auf. Die uns durch die Schriftrollen vom Toten Meer bekannte Qumran-Sekte kritisierte das Priestertum in Jerusalem besonders scharf. Es ist bemerkenswert, dass unsere Weisen ihre geistige Abstammung auf die Propheten und nicht auf die Priester zurückführten (Awot 1:1).
Die Kohanim waren für das alte Israel von entscheidender Bedeutung. Sie gaben dem religiösen Leben seine Struktur und Kontinuität, seine Rituale und Routinen, seine Feste und Feiern. Ihre Aufgabe war es, dafür Sorge zu tragen, dass Israel ein heiliges Volk mit Gott in seiner Mitte blieb. Infolgedessen bildeten sie das gesellschaftliche Establishment, welches im Idealfall Hüter der höchsten Werte der Nation ist, im schlimmsten Fall aber korrupt wird, seine Machtposition ausnutzt und sich in innenpolitische Fragen zum persönlichen Vorteil einmischt. Das ist das Verhängnis einer jeden Führungsschicht, insbesondere derjenigen, deren Mitgliedschaft eine Frage der Geburt ist.
Deshalb war die Rolle der Propheten von so wesentlicher Bedeutung. Sie waren die ersten Sozialkritiker, von Gott beauftragt, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen. Noch heute ähneln unsere religiösen Einrichtungen eher dem Priestertum, doch wer sind derzeit Israels Propheten?
Die zentrale Botschaft der Tora ist, dass Führung niemals auf eine Klasse oder Rolle beschränkt werden darf, sondern stets verteilt und geteilt werden muss. Im alten Israel befassten sich Könige mit Macht, Priester mit Heiligkeit und Propheten mit der Integrität und dem Gewissen der Gesellschaft insgesamt. Im Judentum ist Führung weniger Funktion als Spannungsfeld zwischen verschiedenen Rollen, jede mit ihrer eigenen Perspektive, jede mit ihrer eigenen Stimme.
Führung im Judentum ist Kontrapunkt, eine musikalische Form, definiert als „die Technik, zwei oder mehrere Melodielinien so zu verbinden, dass sie eine harmonische Beziehung herstellen, jedoch ihre lineare Individualität bewahren“. 5 Es ist diese innere Komplexität, die jüdischer Führung ihre Kraft verleiht und sie im Laufe der Zeit vor Entropie und Energieverlust bewahrt.
Ich glaube, Führung sollte immer so sein. Jedes Team sollte sich aus Menschen mit unterschiedlichen Rollen, Stärken, Temperamenten und Perspektiven zusammensetzen. Sie müssen immer offen für Kritik und stets auf der Hut vor Gruppendenken sein. Die Erhabenheit des Judentums beruht auf seinem Bestehen darauf, dass es nur im Himmel eine befehlende Stimme gibt. Hier auf Erden darf niemals ein Einzelner ein Führungsmonopol haben.
Aus dem Aufeinandertreffen der Perspektiven – König, Priester und Prophet – ergibt sich etwas Größeres, als das was jeder Einzelne in seiner persönlichen Rolle zu erreichen vermag.