Okt ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Jenseits der natürlichen Welt

Noach

Sind wir von Natur aus gut oder von Grund auf schlecht? Darüber streiten sich die großen Geister schon seit ewigen Zeiten. Hobbes glaubte, dass wir von Natur aus „ein immerwährendes und rastloses Verlangen nach Macht und immer mehr Macht haben, das erst mit dem Tod aufhört“.[1]  Wir sind böse, aber Regierungen und Ordnungshüter können dazu beitragen, den Schaden, den wir verursachen, in Grenzen zu halten. Rousseau hingegen glaubte, dass wir von Natur aus gut sind. Es wären die Gesellschaft und ihre Institutionen, die uns verderben.[2]

Der Streit wird heute von den Neo-Darwinisten weitergeführt. Einige glauben, dass die natürliche Auslese und der Kampf ums Überleben uns genetisch eher zu Falken als zu Tauben machen. Wie Michael T. Ghiselin es ausdrückt: „Kratze einen ,Altruisten‘ und siehe, wie ein ,Heuchler‘ blutet.“[3]  Im Gegensatz dazu zeigt der Naturforscher Frans de Waal in einer Reihe von wunderbaren Büchern über Primaten, darunter sein Lieblingstier, der Bonobo, dass diese empathisch, fürsorglich und sogar altruistisch[4] sein können und wir es von Natur aus auch sind.

  1. E. Hulme bezeichnete dies als den grundlegenden Unterschied zwischen den Romantikern und den Klassizisten. Die Romantiker glaubten, dass „der Mensch von Natur aus gut ist, dass es nur schlechte Gesetze und Sitten sind, die ihn unterdrücken. Befreit man den Menschen von diesen Fesseln, haben seine unendlichen Möglichkeiten eine Chance, sich zu entfalten“.[5] Die Klassizisten glaubten das Gegenteil: „Der Mensch ist ein außerordentlich fixiertes und begrenztes Tier, dessen Natur absolut konstant ist. Nur durch Tradition und Organisation kann etwas Anständiges aus ihm gemacht werden.“[6]

Im Judentum, so die Weisen, war dies der Streit zwischen den Engeln, als Gott sie konsultierte, ob Er Menschen erschaffen sollte oder nicht. Die Engel waren das „Wir“ in „Wir wollen Menschen schaffen“ (Gen. 1:26). Ein Midrasch erzählt uns, dass die Engel von Chessed und Zedek sagten: „Er solle erschaffen werden, weil die Menschen Gutes und Rechtschaffenes tun werden.“ Die Engel von Schalom und Emmet sagten: „Er solle nicht erschaffen werden, weil er lügen und Kriege führen wird.“ Was tat Gott? Er schuf die Menschen trotz alledem und vertraute darauf, dass wir nach und nach besser und weniger zerstörerisch werden würden.[7]  So argumentiert auch der Harvard-Neurowissenschaftler Steven Pinker in weltlicher Hinsicht.[8]  Im Großen und Ganzen, wenn auch mit offensichtlichen Ausnahmen, sind wir im Laufe der Zeit weniger gewalttätig geworden.

Die Tora vertritt die Ansicht, dass wir sowohl destruktiv als auch konstruktiv sind, und die Evolutionspsychologie sagt uns überdies, warum: Wir werden geboren, um zu konkurrieren und zu kooperieren. Einerseits ist das Leben ein Konkurrenzkampf um knappe Ressourcen – also kämpfen und töten wir. Andererseits können wir nur überleben, wenn wir uns zu Gruppen zusammenschließen. Ohne die Gepflogenheiten der Zusammenarbeit, ohne Altruismus und ohne gegenseitiges Vertrauen gäbe es keine Gemeinschaft, und wir würden nicht überleben. Das ist Teil dessen, was die Tora meint, wenn sie sagt: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“ (Gen. 2:18). Wir sind also sowohl aggressiv als auch altruistisch: aggressiv gegenüber Fremden und altruistisch gegenüber den Mitgliedern unserer Gruppe.

Aber die Tora ist viel zu tiefgründig, um es auf der Ebene des alten Witzes von dem Rabbiner zu belassen, der, nachdem er sich beide Seiten eines häuslichen Streits angehört hat, zu dem Ehemann sagt: „Du hast recht“, und zu der Frau wiederum: „Du hast recht.“ Und als sein Schüler einwendet: „Sie können unmöglich beide recht haben“, antwortet er: „Und du hast auch recht.“ Die Tora benennt wohl das Problem, aber sie liefert auch eine nicht offensichtliche Antwort. Dies ist der Hinweis, der uns hilft, ein sehr subtiles Argument zu entschlüsseln, das sich durch die Parascha der letzten und dieser Woche zieht.

Der grundlegende Aufbau der Geschichte, die mit der Schöpfung beginnt und mit Noah endet, ist folgender: Zunächst schuf Gott ein geordnetes Universum. Dann schuf er die Menschen, die die Welt ins Chaos stürzten: „Das Land war voll von Gewalt.“ Also löschte Gott die Schöpfung sozusagen aus, indem er eine Sintflut herbeiführte und die Erde in den Zustand zurückversetzte, in dem sie sich am Anfang befand, als „die Erde formlos und leer war, Finsternis über der Oberfläche der Tiefe lag, und der Geist Gottes über den Wassern schwebte“ (Gen. 1:2). Dann fing er mit Noah und dessen Familie als den neuen Adam und Eva und ihren Kindern von Neuem an.

Genesis Kapitel 8-9 ist also eine Art Neuauflage von Kapitel 1-3, mit zwei wichtigen Unterschieden: Der erste ist, dass in beiden Berichten ein Schlüsselwort siebenmal vorkommt, es ist jedoch jeweils ein anderes Wort. Im ersten Kapitel der Genesis ist dieses das Wort „gut“. In Kapitel 9 ist es „Bund“. Zweitens wird in beiden Erzählungen auf die Tatsache verwiesen, dass der Mensch ein Ebenbild Gottes ist. Dennoch unterscheiden sich die beiden Sätze in ihrer Bedeutung. Im Kapitel 1 heißt es: „So schuf Gott den Menschen in Seinem Abbild, im Ebenbild Gottes schuf Er ihn, als Mann und Frau schuf Er sie“ (Gen. 1:27). Im Kapitel 9 heißt es hingegen: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden; denn nach dem Ebenbild Gottes hat Gott den Menschen geschaffen“ (Gen. 9:6).

Der Unterschied ist frappierend. Das erste Kapitel der Genesis lehrt mich, dass „ich“ das Ebenbild Gottes bin. Im neunten Kapitel wird mir gesagt, dass „du“, mein potenzielles Opfer, das Ebenbild Gottes bist. Kapitel 1 sagt uns etwas über die menschliche Macht. Wir sind in der Lage, sagt die Tora, „über die Fische des Meeres und die Vögel des Himmels zu herrschen“. Kapitel 9 beschreibt die moralischen Grenzen der Macht. Wir können töten, aber wir dürfen es nicht. Wir haben die Macht, aber nicht die Erlaubnis.

Wenn man die Erzählung genau verfolgt, scheint es, als hätte Gott die Menschen in dem Glauben erschaffen, dass sie von Natur aus das Richtige und Gute wählen würden. Und so bräuchten sie nicht von der Frucht des „Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse“ zu essen, denn sie würden sich instinktiv so verhalten, wie sie es sollten. Berechnungen, Überlegungen, Entscheidungen – all die Dinge, die wir mit Wissen in Verbindung bringen – wären nicht nötig. Die Menschen würden so handeln, wie Gott es wollte, weil sie in seinem Ebenbild erschaffen worden sind.

Doch so kam es nicht. Adam und Eva sündigten, Kain beging einen Mord, und innerhalb weniger Generationen versank die Welt im Chaos. Da lesen wir: „Gott sah, wie groß die Bosheit des Menschengeschlechts auf der Erde geworden war und dass alle Neigungen der Gedanken des menschlichen Herzens immer nur böse waren. Da reute es Gott, dass Er den Menschen auf der Erde geschaffen hatte, und es betrübte Ihn in Seinem Herzen“ (Gen. 6:6). Alles andere im Universum war tow, „gut“. Der Mensch jedoch ist nicht von Natur aus gut. Das ist das Problem. Die Antwort, so die Tora, ist der Bund.

Der Bund führt die Idee eines moralischen Gesetzes ein. Ein moralisches Gesetz ist nicht dasselbe wie ein wissenschaftliches Gesetz. Wissenschaftliche Gesetze sind beobachtete Regelmäßigkeiten in der Natur: Wenn man einen Gegenstand loslässt, wird er fallen. Ein moralisches Gesetz ist eine Verhaltensregel: Du sollst nicht rauben, stehlen oder betrügen. Wissenschaftliche Gesetze beschreiben, während moralische Gesetze vorschreiben.

Wenn ein Naturereignis nicht mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft übereinstimmt, wenn es das Gesetz „bricht“, ist das ein Zeichen dafür, dass das Gesetz fehlerhaft ist. Deshalb wurden die Newtonschen Gesetze durch die von Einstein ersetzt. Aber wenn ein Mensch gegen das Gesetz verstößt, wenn Menschen rauben, stehlen oder betrügen, dann liegt der Fehler nicht im Gesetz, sondern in der Tat. Wir müssen also das Gesetz befolgen und die Tat verurteilen und manchmal bestrafen. Wissenschaftliche Gesetze ermöglichen es uns, Vorhersagen zu treffen. Moralische Gesetze helfen uns, Entscheidungen zu fällen. Wissenschaftliche Gesetze gelten für Wesen ohne freien Willen. Moralische Gesetze setzen ihn voraus. Das ist es, was den Menschen qualitativ von anderen Lebensformen unterscheidet.

Der Tora zufolge begann somit eine neue Ära, die sich nicht auf die Idee der natürlichen Güte, sondern auf das Konzept des Bundes, also des moralischen Gesetzes, stützt. Die Zivilisation begann mit dem Übergang von dem, was die Griechen physis, Natur, nannten, zu nomos, Gesetz. Das gibt dem Begriff „Ebenbild Gottes“, wie er zu Beginn der Genesis und später dann im Kapitel 9 gebraucht wird, einen völlig anderen Sinn: Im Kapitel 1 geht es um Natur und Biologie. Wir verkörpern das Ebenbild Gottes durch unsere Fähigkeit zu denken, zu sprechen, zu planen, zu wählen und zu beherrschen. Im Kapitel 9 geht es hingegen um das moralische Gebot. Auch andere Menschen sind Gottes Ebenbild. Deshalb müssen wir sie respektieren, indem wir Mord verbieten und Institutionen der Rechtsprechung begründen. Mit diesem einfachen Schritt war ein System der Moral geboren.

Was sagt uns die Tora über die Moral?

Erstens, dass sie universell ist. Die Tora stellt Gottes Bund mit Noah und durch ihn mit der gesamten Menschheit vor seinen speziellen Bund mit Abraham und seinen späteren Bund mit dessen Nachkommen am Berg Sinai. Unser universelles Menschsein geht unseren religiösen Unterschieden voraus. Das ist eine Wahrheit, die wir im einundzwanzigsten Jahrhundert, in dem so viel Gewalt religiös gerechtfertigt wird, dringend brauchen. Die Genesis sagt uns, dass auch unsere Feinde Menschen sind.

Dies ist vielleicht der wichtigste Beitrag des Monotheismus zur Zivilisation. Alle Gesellschaften, ob in der Antike oder der Neuzeit, folgen irgendeiner Form von Moral, die aber meist nur die Beziehungen innerhalb der Gruppe regelt. Die Feindseligkeit gegenüber Fremden ist sowohl im Tier- als auch im Menschenreich nahezu durchgängig anzutreffen. Zwischen Fremden regiert die Macht. Wie die Athener zu den Bewohnern von Melos sagten: „Die Starken tun, was sie wollen, während die Schwachen tun, was sie müssen.“[9]

Der Gedanke, dass auch Menschen, die nicht so sind wie wir, Rechte haben und dass wir „den Fremden lieben“ sollten (Deut. 10:19), wäre den meisten Menschen zu den meisten Zeiten völlig fremd gewesen. Erst die Erkenntnis, dass es einen Gott gibt, der über die gesamte Menschheit herrscht („Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht ein Gott erschaffen?“; Mal. 2:10), erbrachte den relevanten Durchbruch hin zu der Vorstellung, dass es moralische Universalien gibt, darunter die Heiligkeit des Lebens, das Streben nach Gerechtigkeit und die Rechtsstaatlichkeit.

Zweitens: Gott selbst erkennt an, dass wir nicht von Natur aus gut sind. Nach der Sintflut sagt Er: „Ich will die Erde nicht mehr verfluchen um der Menschen willen, auch wenn die Neigung ihres Geistes von Kind an böse ist“ (Gen. 8:21). Das Gegenmittel gegen den Jejzer, die Neigung zum Bösen, ist der Bund.

Wir kennen heute die neurowissenschaftlichen Grundlagen dafür. Unser Gehirn hat einen präfrontalen Cortex, der sich so entwickelt hat, dass er es dem Menschen ermöglicht, reflektierend zu denken und zu handeln und die Folgen seiner Taten zu bedenken. Dieser ist jedoch langsamer und schwächer als die Amygdala (das, was die jüdischen Mystiker Nefesch habehamit, die tierische Seele, nannten), die, noch bevor wir Zeit zum Nachdenken haben, einen Reflex auslöst, der uns in den Kampf treibt oder in die Flucht. Ohne diesen hätten die Menschen vor der Zivilisation schlicht nicht überlebt.

Das Problem ist, dass diese schnellen Reaktionen sehr zerstörerisch sein können. Oft führen sie zu Gewalt, nicht nur zu der in der Natur vorkommenden Gewalt zwischen Arten (Raubtier und Beute), sondern auch zu der grundloseren Gewalt, die dem Leben der meisten sozialen Tiere eigen ist. Es ist nicht so, dass wir nur Böses tun. Empathie und Mitgefühl sind für uns ebenso natürlich wie Angst und Aggression. Das Problem ist, dass die Angst direkt unter der Oberfläche des menschlichen Miteinanders liegt und all unsere anderen Instinkte leicht überwältigen kann.

Daniel Goleman nennt dies einen Amygdala-Hijack, eine „Mandelkernentführung“. „Emotionen sorgen dafür, dass wir jetzt aufpassen – es drängt -, und geben uns einen sofortigen Aktionsplan, ohne dass wir zwei Mal nachdenken müssen. Die emotionale Komponente hat sich sehr früh entwickelt: Fresse ich es, oder frisst es mich?“[10]  Impulsives Handeln ist oft zerstörerisch, weil es ohne Rücksicht auf die Konsequenzen erfolgt. Deshalb vertrat Maimonides die Ansicht, dass viele der Gesetze der Tora eine Schulung in Tugenden darstellen, indem sie uns zum Nachdenken bringen, bevor wir handeln.[11]

Die Tora lehrt uns also, dass wir von Natur aus weder gut noch böse sind, aber die Fähigkeit zu beidem besitzen. Wir haben eine natürliche Neigung zu Empathie und Mitgefühl, aber wir haben einen noch stärkeren Instinkt der Angst, der zu Gewalt führen kann. Aus diesem Grund wechselt die Tora beim Übergang von Adam zu Noah von der Natur zum Bund, von Tow zu Brit, von der Macht zu den moralischen Grenzen der Macht. Gene sind nicht genug, wir brauchen auch das moralische Gesetz.

[1] Hobbes, Leviathan (Cambridge, Cambridge University Press, 1996), S. 48.

[2] Siehe Rousseau, Discourse on the Origin and Foundations of Inequality Among Men (Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes), S. 1754.

[3] Ghiselin, The Economy of Nature and the Evolution of Sex (Berkeley, University of California Press, 1974), S. 247.

[4] Siehe Frans de Waals Entdeckungen, beispielsweise in Good-Natured: The Origins of Right and Wrong in Humans and Other Animals (Harvard University Press, 1996); Primates and Philosophers: How Morality Evolved (Princeton University Press, 2006); Chimpanzee Politics (Johns Hopkins University Press, 2007); The Age of Empathy: Nature’s Lessons for a Kinder Society (Broadway Books, 2009); The Bonobo and the Atheist (W. W. Norton, 2013); und Are We Smart Enough to Know How Smart Animals Are? (W. W. Norton, 2016).

[5] T. E. Hulme, Romanticism and Classicism, in T. E. Hulme: Selected Writings, ed. Patrick McGuiness (New York, Routledge, 2003), S. 69.

[6] Ibid., 70

[7] Siehe Berejschit Rabba 8:5.

[8] Steven Pinker, The Better Angels of our Nature (New York, Viking, 2011).

[9] Thucydides, The Peloponnesian War 5.89.

[10] Daniel Goleman, Emotional Intelligence (London, Bloomsbury, 1996), S. 13 ff.

[11] Mischne Tora, Hilchot Temura 4:13.

  1. Warum benötigen wir moralische Gesetze?
  2. Glauben Sie, dass der Mensch eine natürliche Neigung zum Guten oder zum Bösen hat?
  3. Was lehrt uns die Thora über die Menschheit nach dem „Neustart“ der Gesellschaft nach der Sintflut?

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier