Eine der schwierigsten Aufgaben jeder Führungskraft – vom Staatsoberhaupt bis zu den Eltern – ist die Lösung von Konflikten. Und doch ist sie die wichtigste. Führung schafft langfristigen Zusammenhalt innerhalb der Gruppe, ungeachtet kurzfristiger Probleme. Wo es an Führung mangelt, wo es der Spitze an Autorität, Güte, Großmut und der Fähigkeit fehlt, andere Positionen als die eigene zu respektieren, da gibt es Spaltung, Verbitterung, Geläster, Ressentiments, interne Machtspiele und Vertrauensverlust. Wahre Führungspersönlichkeiten sind jene, die die Belange der Gemeinschaft über die einer einzelnen Gruppe stellen. Sie sorgen sich um das Gemeinwohl und inspirieren andere dazu, für die Interessen der Gesellschaft einzutreten.
Aus diesem Grund ist eine Episode in Paraschat Ma’atot von höchster Bedeutung. Sie ereignete sich wie folgt: Die Israeliten befanden sich auf der letzten Etappe ihrer Reise in das Gelobte Land. Sie waren am Ostufer des Jordans, in Sichtweite ihres Ziels angelangt. Zwei der Stämme, Ruben und Gad, die einen großen Viehbestand hatten, waren der Meinung, dass das Land, auf dem sie sich nun befanden, ideal für ihre Zwecke war: ein gutes Weideland. So traten sie an Moses heran und baten um Erlaubnis, dort bleiben zu dürfen, anstatt ihren Anteil am Land Israel einzunehmen. Sie sagten: „Wenn wir Gunst in deinen Augen gefunden haben, so möge dies Land deinen Dienern zum Besitz gegeben werden; führe uns nicht mit über den Jordan!“ (Num. 32:5).
Moses erkannte sofort die Risiken: Diese beiden Stämme stellten ihre eigenen Interessen über die der Nation als Ganzes. Sie würden ihr Volk genau dann im Stich lassen, da es sie am meisten brauchte. Nicht nur ein Krieg musste geführt werden, sollten die Israeliten das verheißene Land in Besitz nehmen. Wie Moses es den Stämmen erwiderte: „Eure Brüder sollen in den Krieg ziehen, und ihr wollt hier bleiben? Warum wollt ihr das Herz der Israeliten abwendig machen von dem Zuge in das Land, das der Ewige ihnen gegeben?“ (Num. 32:6-7). Der Vorschlag war potenziell verhängnisvoll.
Moses erinnerte die Männer von Ruben und Gad daran, was bei dem Vorfall mit den Kundschaftern geschehen war: Sie demoralisierten das Volk, zehn von ihnen sagten, dass sie das Land nicht würden erobern können. Die Einwohner seien zu stark, die Städte uneinnehmbar. Im Ergebnis dieses einen Fehltritts wurde eine ganze Generation dazu verurteilt, in der Wüste zu sterben, und die endgültige Eroberung verzögerte sich um vierzig Jahre. „Und nun habt ihr euch, eine Brut von Sündern, an Stelle eurer Vätererhoben, um den Zorn Gottes gegen Israel noch mehr zu schüren. Denn wenn ihr euch von Ihm wendet, so wird Er es noch weiter in der Wüste lassen; und ihr werdet so über das ganze Volk Vernichtung bringen!“ (Num. 32:14-15). Moses sprach unverblümt, direkt und konfrontativ.
Was dann folgt, ist ein Musterbeispiel für gelungene Verhandlung und Konfliktlösung. Die Stämme von Ruben und Gad erkennen die Ansprüche des Volkes als Ganzes und die Rechtmäßigkeit von Moses’ Anliegen an. Sie schlagen einen Kompromiss vor: Lasst uns Vorkehrungen für unser Vieh und unsere Familien treffen, unsere Männer aber werden die anderen Stämme über den Jordan begleiten, um an ihrer Seite zu kämpfen. Sie werden ihnen sogar vorausgehen und so lange nicht zu ihrem Vieh und ihren Familien zurückkehren, bis alle Schlachten geschlagen, das Land erobert und die anderen Stämme ihr Erbe erhalten haben. Im Wesentlichen berufen sie sich auf das, was später ein Grundsatz des jüdischen Gesetzes werden sollte: Seh nehene weseh lo chaßer, was bedeutet, dass eine Handlung zulässig ist, wenn „eine Seite einen Gewinn hat und die andere dadurch keinen Verlust erleidet“.[1] Wir werden profitieren, so sagen die beiden Stämme, indem wir geeignetes Land für unser Vieh haben, aber die Nation als Ganzes wird keinen Verlust erleiden, weil wir immer noch ein Teil des Volkes sein werden und präsent in der Armee. Wir werden sogar an der Frontlinie sein, und wir werden dort verbleiben, bis der Krieg gewonnen ist.
Moses erkennt die Tatsache an, dass sie auf seine Einwände eingegangen sind. Er wiederholt ihren Vorschlag, um jedes mögliche Missverständnis auszuschließen und um sicherzustellen, dass sie bereit sind, dazu zu stehen. Er legt ihnen einen Tenai kaful auf, eine doppelte Bedingung – sowohl positiv als auch negativ: Wenn wir dies tun, wird es jenes zur Folge haben, unterlassen wir es aber, wird dies die Konsequenz sein. Er bittet sie, ihre Verpflichtung zu bekräftigen. Die beiden Stämme stimmen zu, und der Konflikt ist abgewendet. Die Stämme Ruben und Gad haben erreicht, was sie wollten, aber die Interessen der anderen Stämme und der Nation als Ganzes sind gesichert. Es ist eine Meisterklasse im Verhandeln.
Inwieweit Moses’ Bedenken berechtigt waren, sollte sich erst viele Jahre später zeigen. Die Männer von Ruben und Gad erfüllten tatsächlich ihr Versprechen in den Tagen Josuas. Die übrigen Stämme eroberten und besiedelten Israel, während sie (zusammen mit der Hälfte des Stammes Manasse) sich in Transjordanien niederließen. Trotzdem kam es innerhalb kurzer Zeit fast zu einem Bürgerkrieg.
In Kapitel 22 des Buches Josua wird beschrieben, wie die Stämme von Ruben und Gad, nachdem sie zu ihren Familien zurückgekehrt waren und ihr Land besiedelt hatten, „einen Altar für Gott“ auf der Ostseite des Jordans errichteten. Der Rest der Israeliten sah dies als einen Akt der Abspaltung an und rüstete sich, gegen sie in den Kampf zu ziehen. In einem bemerkenswerten Schritt der Diplomatie schickte Josua Pinchas, bekannt für seinen einstmaligen Eifer, der nun ein Mann des Friedens war, um zu verhandeln. Er warnte sie vor den schrecklichen Folgen ihres Handelns, indem sie faktisch ein religiöses Zentrum außerhalb des Landes Israel schufen: Dies würde die Nation in zwei Teile spalten.
Die Söhne Rubens und Gads stellten klar, dass dies keineswegs ihre Absicht war. Im Gegenteil, sie waren selbst besorgt, dass der Rest der Israeliten sie in Zukunft jenseits des Jordans leben sehen und daraus schließen könnte, dass sie nicht länger Teil der Nation sein wollten. Deshalb hatten sie den Altar gebaut, nicht um Opfer darzubringen, nicht als Konkurrenz zum Heiligtum der Nation, sondern lediglich als Symbol und Zeichen für künftige Generationen, dass auch sie Israeliten waren. Pinchas und der Rest der Delegation waren mit dieser Antwort zufrieden, und der Bürgerkrieg war erneut abgewendet.
Die Verhandlung zwischen Moses und den beiden Stämmen in unserer Parascha klingt in den Prinzipien mit, zu denen das Harvard Negotiation Project gelangt ist und die von Roger Fisher und William Ury in ihrem klassischen Text Getting to Yes[2] dargelegt wurden. Im Wesentlichen kamen sie zu dem Schluss, dass eine erfolgreiche Verhandlung vier Prozesse beinhalten muss:
- Die Trennung der Beteiligten von der Problemstellung. In jeder Verhandlung gibt es eine Vielzahl persönlicher Spannungen. Es ist wichtig, dass diese zuerst ausgeräumt werden, damit das Problem objektiv angegangen werden kann.
- Der Fokus auf Interessen, nicht Positionen. Jeder Konflikt kann leicht zu einem Nullsummenspiel werden: „Wenn ich gewinne, musst du verlieren. Wenn du gewinnst, muss ich verlieren.“ Dies ist die Fragestellung, die sich aus einer auf Positionen gerichteten Sichtweise ergibt: „Wer gewinnt?“ Konzentriert man sich jedoch nicht auf Positionen, sondern auf Interessen, lautet die Fragestellung: „Gibt es einen Weg, allen vertretenen Interessen zu entsprechen?“
- Die Lösungssuche zum gegenseitigen Nutzen. Dies ist die Idee, die in der Halacha als Seh nehene weseh nehene ausgedrückt wird: „Beide Seiten profitieren.“ Dies kann zustande kommen, weil beide Parteien in der Regel unterschiedliche Ziele verfolgen, von denen keines das andere unbedingt ausschließt.
- Das Bestehen auf objektiven Kriterien. Beide Seiten stimmen im Voraus der Anwendung objektiver, unparteiischer Kriterien zu, um zu beurteilen, ob einer Vereinbarung entsprochen wurde. Andernfalls wird der Streit trotz aller scheinbarer Zustimmung weitergehen, wobei beide Seiten darauf beharren, dass die andere ihrer Versprechung nicht nachgekommen ist.
Moses entspricht allen vier Prozessen. Zuerst trennt er das Volk von dem Problem: Er macht den Stämmen von Ruben und Gad klar, dass das Problem nichts damit zu tun hat, wer sie sind, sondern allein mit den Erfahrungen der Israeliten in der Vergangenheit, insbesondere mit der Begebenheit mit den Kundschaftern. Unabhängig davon, wer die zehn negativen Gesandten waren und aus welchen Stämmen sie kamen, litten alle. Es geht nicht um den einen oder anderen Stamm, sondern um die gesamte Nation.
Zweitens konzentrierte sich Moses auf Interessen, nicht auf Positionen. Beide Stämme haben ein Interesse am Schicksal der Nation als Ganzes. Stellen sie ihre persönlichen Interessen allen voran, wird Gott aufgebracht und das ganze Volk wird bestraft werden, einschließlich ihrer eigenen Stämme Ruben und Gad. Es ist auffallend, wie sehr sich diese Verhandlung von der Auseinandersetzung mit Korach und seinen Anhängern abhebt. Dort ging es bei dem ganzen Streit um Positionen, nicht um Interessen – darum, wer das Recht zur Führung hatte. Das Ergebnis war eine kollektive Tragödie.
Drittens kommen die Stämme Ruben und Gad schließlich auf eine Lösung zum gegenseitigen Vorteil: Wenn ihr uns erlaubt, vorübergehend für unser Vieh und unsere Kinder zu sorgen, sagen sie, werden wir nicht nur im Heer kämpfen, wir werden seine Vorhut sein. Wir werden davon profitieren, weil wir uns sicher sein können, dass unserer Bitte entsprochen wurde. Die Nation wird ihrerseits durch unsere Bereitschaft, die anspruchsvollste militärische Aufgabe zu übernehmen, profitieren.
Viertens gab eine Einigung über objektive Kriterien. Die Söhne Rubens und Gads würden erst dann an das Ostufer des Jordans zurückkehren, wenn alle anderen Stämme sicher in ihren Gebieten angesiedelt wären. Und so geschah es, wie im Buch Josua erzählt wird:
Damals rief Josua die Stämme Ruben und Gad und den halben Stamm Manasse zu sich und sprach zu ihnen: „Ihr habt alles getan, was Moses, der Diener Gottes, euch geheißen hat, und ihr habt mir gehorcht in allem, was ich euch geboten habe. Ihr habt eure Brüder nicht verlassen diese ganze lange Zeit bis auf diesen Tag, vielmehr habt ihr den Auftrag, den der Ewige, euer Gott, euch gegeben hat, ausgeführt. Und nun, da der Ewige, euer Gott, euren Brüdern Ruhe verschafft hat, wie er es versprochen hat, kehrt zurück in eure Häuser in dem Land, das Moses, der Diener Gottes, euch jenseits des Jordans gegeben hat“ (Josua 22:1-4).
Dies war, auf den Punkt gebracht, eine vorbildliche Verhandlung, ein Zeichen der Hoffnung nach den vielen zerstörerischen Konflikten im Buch Bamidbar. Es besteht dies fort als Beispiel einer Alternative zu den vielen Konflikten in der späteren jüdischen Geschichte, die so entsetzliche Ergebnisse zeitigten.
Moses hat Erfolg, nicht weil er schwach ist, nicht weil er bereit ist, die Integrität der Nation als Ganzes aufs Spiel zu setzen, nicht weil er honigsüße Worte und diplomatische Ausflüchte benutzt, sondern weil er ehrlich und prinzipientreu ist und all sein ganzer Sinn auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist. Wir alle stehen in unserem Leben vor Konflikten. So können wir sie lösen.
[1] Bawa Kamma 20b.
[2] Roger Fisher und William Ury, Getting to Yes: Negotiating Agreement Without Giving In (Random House Business, 2011).