Lernen und führen
Schoftim 5781
Der Wochenabschnitt Schoftim ist die klassische Quelle für die drei Arten der Führung im Judentum, die von den Weisen auch als die „drei Kronen“ bezeichnet werden: Priesterschaft, Königtum und Tora.[1] Dies ist in der Geschichte die erste Grundsatzerklärung des im achtzehnten Jahrhundert von Montesquieu in L’Esprit des Lois (Vom Geist der Gesetze) dargelegten Prinzips, das später von grundlegender Bedeutung für die amerikanische Verfassung werden sollte: „die Gewaltenteilung“.[2]
Unter Menschen muss die Macht aufgespalten und verteilt werden; sie darf nicht in einer einzigen Person oder einem einzigen Amt konzentriert sein. Im biblischen Israel gab es Könige, Priester und Propheten. Könige hatten weltliche oder staatliche Macht. Die Priester waren die führenden Köpfe im religiösen Bereich, sie leiteten den Gottesdienst im Tempel und andere Rituale und sprachen Urteile in Fragen der Heiligkeit und der rituellen Reinheit. Die Propheten waren von Gott beauftragt, Korruptionen der Macht zu kritisieren und das Volk zu seiner religiösen Berufung zurückzuführen, wenn es davon abgewichen war.
Unsere Parascha befasst sich mit allen drei Funktionen. Die meiste Aufmerksamkeit erregt zweifellos der Abschnitt über die Könige, und dies aus mehreren Gründen. Erstens ist dies das einzige Gebot in der Tora, das mit der Erklärung einhergeht, dass dies auch andere Völker tun: „Wenn du in das Land kommst, das der Ewige, dein Gott, dir gibt, und du es in Besitz nimmst und dich darin niederlässt und du sagst: ‚Wir wollen einen König über uns setzen wie alle Völker um uns herum…‘“ (Deut. 17:14). Normalerweise wird den Israeliten in der Tora geboten, sich von anderen zu unterscheiden. Die Tatsache, dass dieses Gebot eine Ausnahme darstellt, hat bei den Kommentatoren über alle Epochen hinweg eine gewisse Ambivalenz in Bezug auf die Vorstellung von Monarchie hervorgerufen.
Zweitens wirkt der Abschnitt auffallend negativ. Er sagt uns eher, was einem König untersagt ist, als was er tun soll: Er soll sich nicht „eine große Anzahl von Pferden anschaffen“ oder „viele Frauen nehmen“ oder „große Mengen an Silber und Gold anhäufen“ (Deut. 17:16-17). Dies sind die Versuchungen der Macht, und wie wir aus dem Rest des Tanach wissen, war selbst der Größte – König Salomon – ihnen gegenüber anfällig.
Drittens findet sich hier – im Einklang mit der grundlegend jüdischen Idee, dass Führung nicht Herrschaft, Macht, Status oder Überlegenheit bedeutet, sondern zu dienen und demütig zu sein – die Anweisung für den König: Er soll ständig die Tora lesen, „auf dass er lerne, den Ewigen, seinen Gott, zu fürchten… und sich nicht für besser als seine Brüder hält“ (Deut. 17:19-20). Es ist nicht so einfach, demütig zu sein, wenn sich alle vor einem verneigen und man die Macht über Leben und Tod seiner Untertanen hat.
Daher gehen die Meinungen der Kommentatoren darüber, ob die Monarchie eine gute oder eine gefährliche Einrichtung ist, weit auseinander. Maimonides hält die Ernennung eines Königs für eine Pflicht, Ibn Esra für eine Genehmigung, Abarbanel für ein Zugeständnis und Rabbejnu Bachja für eine Strafe – eine Auslegung, die tatsächlich John Milton, der in einer der brisantesten (und antimonarchischen) Perioden der englischen Geschichte wirkte, bekannt war.[3]
Es gibt jedoch eine positive und außerordentlich wichtige Dimension des Königtums. Einem König wird geboten, ständig zu lernen:
„…und er soll es alle Tage seines Lebens lesen, auf dass er lerne, den Ewigen, seinen Gott, zu fürchten und alle Worte dieses Gesetzes und dieser Verordnungen sorgfältig zu befolgen und sich nicht für etwas Besseres als seine Brüder zu halten und nicht vom Gesetz abzuweichen, weder rechts noch links, auf dass er und seine Nachkommen lange Zeit über sein Reich in Israel herrschen (Deut. 17:19-20).
Später, in dem Buch, das seinen Namen trägt, wird Josua, der Nachfolger von Moses, mit ganz ähnlichen Worten aufgefordert:
Behalte dieses Buch des Gesetzes immer auf deinen Lippen und denke Tag und Nacht darüber nach, damit du darauf achtest, alles zu erfüllen, was darin geschrieben steht. Dann wird es euch gut ergehen und ihr werdet erfolgreich sein (Jos. 1:8).
Führungspersönlichkeiten lernen. Das ist das Prinzip, um das es hier geht. Ja, sie haben Berater, Älteste, Ratgeber, einen inneren Hofstaat aus Weisen und Literaten. Und ja, die biblischen Könige hatten Propheten, die ihnen das Wort Gottes überbrachten – Saul den Samuel, David den Nathan, Hiskija den Jesaja und so weiter. Aber diejenigen, von denen das Schicksal des Volkes abhängt, dürfen die Aufgabe des Denkens, Lesens, Studierens und Erinnerns nicht von sich wegdelegieren. Sie haben nicht das Recht zu sagen: Ich muss mich um die Staatsgeschäfte kümmern, also habe ich keine Zeit für Bücher. Führer müssen Gelehrte sein, Bnej Tora, „Kinder des Buches“, sollen sie denn das Volk des Buches leiten und führen.
Die großen Staatsmänner der Neuzeit verstanden dies, zumindest in säkularer Hinsicht. William Gladstone, viermaliger Premierminister Großbritanniens, besaß eine Bibliothek mit 32.000 Büchern. Wir wissen, dass er 22.000 davon gelesen hat, weil er in seinem Tagebuch jedes Mal vermerkte, wenn er ein Buch zu Ende gelesen hatte. Wenn man davon ausgeht, dass er dies im Laufe von achtzig Jahren tat (er wurde 88 Jahre alt), bedeutet dies, dass er im Durchschnitt 275 Bücher pro Jahr oder mehr als fünf pro Woche las, und das ein Leben lang. Außerdem verfasste er viele Bücher über eine große Vielzahl von Themen, von Politik über Religion bis hin zu griechischer Literatur, und seine Gelehrsamkeit war oft beeindruckend. So war er beispielsweise laut Guy Deutscher in Through the Language Glass[4] der Erste, der erkannte, dass die alten Griechen keinen Farbensinn besaßen und dass Homers berühmter Satz „das weindunkle Meer“ sich auf die Konsistenz und nicht auf die Farbe des Wassers bezog.
Besucht man das Haus von David Ben Gurion in Tel Aviv, wird man feststellen, dass das Erdgeschoss äußerst spartanisch eingerichtet ist, während das Obergeschoss eine einzige riesige Bibliothek mit Zeitungen, Zeitschriften und 20.000 Büchern ist. In Sde Boker besaß er ungefähr weitere 4.000. Wie Gladstone war auch Ben Gurion ein unersättlicher Leser und produktiver Autor. Benjamin Disraeli war ein Bestsellerautor, bevor er in die Politik ging. Winston Churchill schrieb fast 50 Bücher und erhielt den Nobelpreis für Literatur. Dies ist es, was einen Staatsmann vom einfachen Politiker unterscheidet: das unermüdliche Lesen und Schreiben.
Die beiden größten Könige des frühen Israels, David und Salomon, waren beide Autoren, David der Autor der Psalmen, Salomon (der Überlieferung nach) des Hohelieds, der Sprüche und des Predigers. Das wichtigste biblische Wort im Zusammenhang mit Königen ist Chochma, „Weisheit“. Vor allem Salomon war für seine Weisheit bekannt:
Als ganz Israel das Urteil des Königs hörte, hatten sie Ehrfurcht vor ihm; denn sie sahen, dass die Weisheit Gottes in ihm war, Recht zu sprechen. (I Könige 3:28)
Salomons Weisheit war größer als die Weisheit aller Völker des Morgenlandes und größer als alle Weisheit Ägyptens… Aus allen Völkern kamen Menschen, um Salomons Weisheit zu hören, gesandt von allen Königen der Welt, die von seiner Weisheit gehört hatten (I Könige 5:10-14).
Als die Königin von Saba all die Weisheit Salomons sah…, war sie überwältigt. Sie sagte zum König: „Die Rede, die ich in meinem Land über deine Leistungen und deine Weisheit vernommen habe, ist wahr. Aber ich habe es nicht geglaubt, bis ich kam und es mit eigenen Augen sah. Nicht einmal die Hälfte hat man mir gesagt; weit übertriffst du an Weisheit und Reichtum die Rede, die ich gehört…“ Die ganze Welt begehrte eine Audienz bei Salomon, um die Weisheit zu hören, die Gott in sein Herz gelegt. (I Könige 10:4-24).
Wir sollten beachten, dass Chochma, Weisheit, etwas anderes bedeutet als Tora, die eher mit Priestern und Propheten als mit Königen in Verbindung gebracht wird. Chochma schließt die weltliche Weisheit ein, die eher ein menschlich universelles als ein besonderes Erbe der Juden und des Judentums ist. In einem Midrasch heißt es: „Wenn jemand zu dir sagt: ‚Es gibt Weisheit unter den Völkern der Welt‘, dann glaube ihm. Sagt man aber: ‚Es gibt Tora unter den Völkern der Welt‘, dann glaube es nicht.“ Im weitesten Sinne bezieht sich Chochma, modern ausgedrückt, auf die Natur- und Geisteswissenschaften – auf alles, was es uns ermöglicht, das Universum als Werk Gottes und den Menschen als Ebenbild Gottes zu erkennen. Die Tora ist das besondere moralische und geistige Erbe Israels.
Der Fall Salomons ist besonders eindrucksvoll, weil es ihm trotz all seiner Weisheit nicht gelang, den drei in unserer Parascha beschriebenen Versuchungen zu widerstehen: Er schaffte sich eine große Anzahl von Pferden an, er nahm sich viele Frauen, und er häufte großen Reichtum an. Weisheit ohne Tora reicht nicht aus, um einen Führer vor dem Verderben der Macht zu bewahren.
Obwohl nur wenige von uns dazu bestimmt sind, Könige, Präsidenten oder Premierminister zu werden, geht es uns doch um ein allgemeines Prinzip. Führungspersönlichkeiten lernen. Sie lesen. Sie studieren. Sie nehmen sich Zeit, um sich mit der Welt der Ideen vertraut zu machen. Nur so gewinnen sie die Perspektive, um weiter und klarer sehen zu können als andere. Eine jüdische Führungspersönlichkeit zu sein bedeutet, sich Zeit zu nehmen, um sowohl Tora als auch Chochma zu studieren: Chochma, um die Welt zu verstehen, wie sie ist, Tora, um die Welt zu verstehen, wie sie sein sollte.
Führungspersönlichkeiten sollten nie aufhören zu lernen. Nur so können sie wachsen und anderen beibringen, mit ihnen zu wachsen.
[1] Mischna Awot 4:13. Maimonides, Mishne Tora, Hilchot Talmud Tora, 3:1.
[2] Montesquieus Unterteilung in Legislative, Exekutive und Judikative wird in den meisten westlichen Demokratien gefolgt. Im Judentum kommt die primäre Gesetzgebung von Gott. Die Könige und die Weisen hatten nur die Macht, sekundäre Gesetze zu erlassen, um die Ordnung zu sichern und „einen Zaun um das Gesetz zu errichten“. Daher verkörperte im Judentum der König die Exekutive und die Priesterschaft in biblischer Zeit die Judikative. Die von den Propheten getragene „Krone der Tora“ war eine einzigartige Institution: eine göttlich sanktionierte Form der Gesellschaftskritik – eine Aufgabe, die in der Moderne, obschon nicht immer erfolgreich, allgemein bekannte Intellektuelle übernommen haben. Heute gibt es einen Mangel an „Propheten“. Vielleicht gab es ihn schon immer.
[3] Siehe Eric Nelson, The Hebrew Republic (Harvard University Press, 2010), S. 41-42.
[4] Guy Deutscher, Through the Language Glass: Why the World Looks Different in Other Languages (New York, Metropolitan Books/Henry Holt and Co., 2010).