Man lernt nie aus
Die Cherubim auf dem Stiftszelt erinnern den Menschen daran, an sich zu arbeiten
Das Volk Israel bekommt den Auftrag, den Mischkan, das Stiftszelt, für den Ewigen zu bauen. Der Bau wird in diesem Wochenabschnitt genau beschrieben. Dabei hat jedes Element eine tiefe symbolische Bedeutung. Eines der Objekte, die der Mischkan zu beinhalten hat, sind die Cherubim. Dies waren zwei hölzerne, mit Gold überzogene Gesichter, die sich gegenseitig anschauten. Sie standen am heiligsten Ort des Stiftszeltes.
Wie hatten sie auszusehen? Und was war ihre Funktion? Raschi meint dazu, sie sollten zwei Kindergesichter darstellen. Der Baal HaTurim jedoch erklärt, dass die Cherubim zwei Freunde zeigen, die sich mit dem Torastudium beschäftigen. Wie sollen wir uns diese Gesichter vorstellen? Zwei Kinder, die Tora lernen? Und was haben diese Cherubim mit dem eigentlichen Mischkan zu tun?
LEBENSFÜHRUNG Der Mischkan war der allerheiligste Ort, der auch als Modell für das spätere Heiligtum im Jerusalemer Tempel diente. Nur ein Mal im Jahr, an Jom Kippur, dem Tag der Versöhnung, wurde er vom Kohen Gadol, dem Hohepriester, betreten, um Gott um Vergebung für die Vergehen des Volkes Israel zu bitten. Um jedoch Vergebung erfahren zu können, musste ein jeder ernsthaft versuchen, seine Lebensführung zu ändern. Aber wie ändert man sein Leben? Oft wissen wir gar nicht, dass wir etwas falsch machen, und selbst wenn, fällt es uns schwer, uns zu bessern.
Doch was hat all dies mit dem Aussehen der Cherubim zu tun? Die Cherubim sehen nach Baal HaTurim wie zwei Freunde aus, die sich mit dem Studium der Tora beschäftigen. Die Tora in ihrer Vielfalt lehrt uns unter anderem, wie wir mit Gott und unseren Mitmenschen umgehen sollen. Sie ist eine Quelle für moralische Werte, die bei jeder Art von Entscheidung grundlegend sind. Darüber hinaus kann das Nachdenken über das Leben oder der gedankliche Versuch, sich zu ändern, als Torastudium bezeichnet werden.
Als einmal ein armer Mann einem Paar zu seiner Hochzeit nur einen sehr kleinen Betrag schenkte, lachten ihn alle aus. Der Bräutigam jedoch entgegnete: »Das mag ein kleiner Betrag sein, doch für diesen armen Mann stellt er ein Vermögen dar. Ich kann mir kein größeres Geschenk vorstellen.« Er verstand, dass die Fähigkeit, eine Geldsumme einzuschätzen, von der Erfahrung des Einschätzenden abhängt. Genauso verhält es sich mit der Einschätzung der Taten eines Menschen. So führt eine Beschäftigung mit moralischen Grundsätzen dazu, dass das Verständnis davon erweitert wird.
Diesen Gedanken können wir mit dem Kommentar des Baal HaTurim verbinden. Jemand möchte vor Jom Kippur sein Fehlverhalten ändern. Dazu muss er erst einmal seine Fehler erkennen. Die Cherubim, die zwei studierende Freunde darstellen, erinnern uns daran, dass wir unser Feingefühl und unser Gespür für richtiges Benehmen erweitern müssen.
LEHRER Warum aber sagt der Baal HaTurim, dass es zwei Freunde sein müssen? In Pirkej Awot, den Sprüchen der Väter, heißt es: »Mache dir einen Lehrer!«, und diese Anweisung gilt für jeden, nicht nur für den Unwissenden. Der Talmud erzählt uns, dass die Gelehrten Babylons sich stets voreinander verbeugten, um sich gegenseitig Ehre zu erweisen. Sie wussten, sie können das Gesetz nur dann richtig auslegen, wenn jede ihrer Aussagen von einem anderen geprüft wird. Doch wie können sie sich gegenseitig als Lehrer angesehen haben? Muss nicht ein Lehrer weiser sein als sein Schüler? Ein Lehrer, selbst wenn er nicht mehr weiß als wir selbst, kann uns helfen, auf dem richtigen Weg zu bleiben. An Jom Kippur die Cherubim zu sehen, dient nach Auffassung des Baal HaTurim also als Vorbereitung auf die Rückkehr zu gutem Benehmen.
Der Kommentator Raschi sagt, dass die Cherubim wie Kindergesichter auszusehen hatten. Können wir in diesem Kommentar den gleichen Grundgedanken erkennen, den auch Baal HaTurim verfolgt? Was haben Gesichter von Kindern mit der Erweiterung des Verständnisses zu tun? Die Fähigkeit, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, hängt doch von der eigenen Lebenserfahrung ab. Sollten die Cherubim nicht eher wie zwei Greise mit weißen Bärten aussehen?
Kinder sind ein Symbol für Wissensdurst. Ein Kind ist bereit, Wissen zu empfangen, von jedem zu lernen und Unbekanntes zu ergründen. Dabei sind Kinder in der Regel unvoreingenommen und ein wenig naiv. Im Gegensatz dazu sind Erwachsene oftmals mit dem zufrieden, was sie schon wissen und neigen sogar dazu, all das abzulehnen, was sie noch nicht kennen. Vor Jom Kippur sollte ein Mensch sich jedoch eine kindliche Wissensgier aneignen, um das eigene Verständnis von richtig und falsch zu hinterfragen und der Rückkehr zu einem besseren Verhalten eine Chance zu geben.
BESCHEIDENHEIT An einer weiteren Stelle im Traktat Awot heißt es: »Ben Soma sagte: Wer ist weise? – Derjenige, der von jedem Menschen lernt« (Pirkej Awot 4,1). Was meint Ben Soma? Ist es wirklich klug, von jedem Menschen zu lernen? Hat einem tatsächlich jeder etwas beizubringen? Meistens suchen wir uns die Menschen wie auch Situationen, von denen wir etwas lernen, sehr sorgfältig aus. Bei Weitem nicht jeder, so meinen wir, hat es verdient, uns zu belehren. Ben Soma in seiner Aussage lehrt uns dagegen, dass ein wirklich weiser Mensch bescheiden genug ist, um von jedem zu lernen. Bescheidenheit ermöglicht es uns, von anderen Menschen zu lernen.
Die Tora bezeichnet Mosche Rabenu als den Bescheidensten der Bescheidenen. Als der Ewige Mosche den Auftrag gab, das jüdische Volk aus Ägypten zu führen, erwiderte Mosche ihm: »Sende doch nur, wen du senden willst« (2. Buch Moses 4,13). Mosche hat keine besondere Auserwähltheit in sich gespürt. Unsere Lehrer sagen uns, dass diese Bescheidenheit notwendig war, um den göttlichen Auftrag durchzuführen. Mosche musste seine Charaktereigenschaften perfektionieren, damit er sich seiner Aufgabe vollkommen widmen konnte. Ich wünsche uns allen, dass wir die Weisheit und Bescheidenheit in uns finden, nüchtern über unser Leben nachdenken zu können.
Aus Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 23.02.2012