Aug ‍‍2024 - תשפד / תשפה

Natürlich oder übernatürlich

   Das Buch Bamidbar endet mit einem Bericht über die Zufluchtsstädte, sechs Städte – drei auf jeder Seite des Jordans -, in die Menschen vorübergehend verbannt wurden, die des Mordes für unschuldig, aber des Totschlags für schuldig befunden worden waren.

In den frühen Gesellschaften, vor allem in den nicht-städtischen, die über keine umfangreiche Ordnungskraft verfügten, bestand die Befürchtung, dass die Menschen das Gesetz selbst in die Hand nehmen könnten, insbesondere wenn ein Mitglied ihrer Familie oder ihres Stammes getötet wurde. Ein Kreislauf von Rache und Vergeltung wäre dann in Gang gesetzt worden, der kein natürliches Ende gefunden hätte, ein Rachemord hätte zum nächsten geführt und wieder zum nächsten, mit verheerenden Folgen für die Gemeinschaft. Wir kennen dieses Phänomen aus der Literatur, von den Montagues und Capulets in Romeo und Julia über die Sharks und Jets in der West Side Story bis zu den Corleones und Tattaglias in Der Pate.

Die einzig praktikable Lösung ist ein effektiver und unparteiischer Rechtsstaat. Und doch lauert eine ständige Gefahr: Wenn zum Beispiel jemand seinen Nächsten getötet hat und das Gericht ihn des Mordes für unschuldig erklärt – es war ein Unfall, es lag keine böse Absicht vor, Opfer und Täter waren keine Feinde -, dann besteht die Gefahr, dass die Familie des Opfers das Gefühl hat, dass der Gerechtigkeit nicht Genüge getan wurde. Ihr Angehöriger ist tot, und niemand wurde bestraft.

Um solche Situationen der „Blutrache“ zu verhindern, wurden die Zufluchtsstädte eingerichtet. Dorthin wurden diejenigen geschickt, die einen Totschlag begangen hatten, und solange sie sich innerhalb der Stadtgrenzen aufhielten, standen sie unter dem Schutz des Gesetzes. Sie mussten dort bleiben – wie es in unserer Parascha heißt – „bis zum Tod des Hohepriesters“ (Num. 35:25).

Die naheliegende Frage ist: Was hat der Tod des Hohepriesters damit zu tun? Es scheint keinen Zusammenhang zwischen Totschlag, Blutrache und dem Hohepriester, geschweige denn seinem Tod zu geben.

Betrachten wir hierzu zwei sehr unterschiedliche Interpretationen. Sie sind für sich genommen schon interessant, aber darüber hinaus zeigen sie uns die Bandbreite des Denkens im Judentum. Die erste stammt aus dem Babylonischen Talmud:

„Ein ehrwürdiger alter Gelehrter sagte: ‚Ich habe in einer der Vorlesungen von Rawa eine Erklärung gehört, dass der Hohepriester zu Gott um Gnade für seine Generation hätte beten sollen, es aber nicht getan hat‘“ (Mackot 11a).

Der Hohepriester trug also eine – wenn auch geringe – Mitschuld am Tod eines Menschen, auch wenn es sich um einen Unfall handelte. Anders wäre es bei einem Mord gewesen. Dieser hätte auch durch das Gebet des Hohepriesters nicht verhindert werden können. Ein Mörder ist des Verbrechens schuldig, weil er sich für die Tat entschieden hat, und niemand sonst kann dafür verantwortlich gemacht werden. Ein Totschlag aber ist, gerade weil er ohne Vorsatz geschieht, ein Ereignis, das durch das Gebet des Hohepriesters hätte verhindert werden können. Deshalb ist er erst nach dem Tod des Hohepriesters vollständig gesühnt. Erst dann kann der Totschläger freikommen.

Eine ganz andere Erklärung bietet Maimonides im Führer der Unschlüssigen:

„Ein Mensch, der unwissentlich einen anderen Menschen getötet hat, muss ins Exil gehen, weil der Zorn des ‚Bluträchers‘ sich erst legt, wenn die Ursache des Unheils aus seinem Blickfeld verschwunden ist. Die Chance, aus dem Exil zurückzukehren, hängt vom Tod des Hohepriesters ab, des angesehensten Mannes und Freundes ganz Israels. Durch seinen Tod wird der Verwandte des Erschlagenen versöhnt (Num. 35:25), denn es ist nur natürlich, dass wir in unserem Unglück Trost finden, wenn das gleiche oder ein größeres Unglück einen anderen getroffen hat. Kein Tod macht uns trauriger als der des Hohepriesters“ (Führer der Unschlüssigen III, 40).

Nach Maimonides hat der Tod des Hohepriesters nichts mit Schuld oder Sühne zu tun, sondern einfach damit, dass er eine so große kollektive Trauer auslöst, dass die Menschen angesichts eines solch großen nationalen Verlustes ihr eigenes Unglück vergessen. Das ist der Moment, in dem die Menschen ihr persönliches Ungerechtigkeits-empfinden und ihre Rachegefühle aufgeben. So kann der des Totschlags für schuldig Befundene sicher nach Hause zurückkehren. Worum geht es bei diesen beiden grundverschiedenen Rechtsauf-fassungen? Bei der ersten geht es um die Frage, ob die Verbannung in eine Zufluchtsstadt eine Art Strafe ist oder nicht. Nach dem Babylonischen Talmud scheint dies der Fall zu sein. Es mag keine Absicht vorgelegen haben. Niemand war im juristischen Sinne schuldig. Aber eine Tragödie geschah durch die Hand von X, dem Schuldigen des Totschlags, und auch der Hohepriester war, wenn auch nur passiv, an der Schuld beteiligt. Erst wenn beide gelitten haben, der eine durch die Verbannung, der andere durch den (natürlichen, nicht gerichtlichen) Tod, ist das moralische Gleichgewicht wiederhergestellt. Die Familie des Opfers hat das Gefühl, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.

Maimonides versteht das Gesetz der Zufluchtsstädte jedoch nicht im Sinne von Schuld oder Strafe. Der einzig relevante Gesichtspunkt ist die Sicherheit. Derjenige, der sich eines Totschlags schuldig gemacht hat, geht ins Exil, nicht weil es eine Form der Sühne ist, sondern weil es für ihn sicherer ist, fern von denen zu sein, die sich rächen könnten. Er bleibt dort, bis der Hohepriester stirbt, denn erst nach einer nationalen Tragödie kann man davon ausgehen, dass die Menschen den Gedanken an Rache für das eigene tote Familienmitglied aufgegeben haben. Das ist ein fundamentaler Unterschied in der Art und Weise, wie wir uns die Städte der Zuflucht vorstellen.

Es gibt aber noch einen grundlegenderen Unterschied. Der Babylonische Talmud setzt ein gewisses Maß an übernatürlicher Realität voraus. Er geht davon aus, dass, wenn der Hohepriester nur intensiv und hingebungsvoll genug gebetet hätte, es nicht zu den tödlichen Unfällen gekommen wäre. Maimonides’ Erklärung ist nicht übernatürlich. Sie gehört im Großen und Ganzen zu dem, was wir Sozialpsychologie nennen würden. Menschen sind besser in der Lage, mit der Vergangenheit umzugehen, wenn sie nicht jeden Tag daran erinnert werden, wenn sie die Person sehen, die vielleicht das Auto gefahren hat, das ihren Sohn getötet hat, als er in einer dunklen Nacht bei starkem Regen in einer scharfen Kurve die Straße überquerte.

Es gibt Todesfälle – wie die von Prinzessin Diana und der Königinmutter in Großbritannien -, die eine weit verbreitete und tiefe nationale Trauer auslösen. Es gibt Zeiten – wie nach dem 11. September 2001 oder nach dem Tsunami im Indischen Ozean am 26. Dezember 2004 -, in denen unsere persönlichen Sorgen einfach zu unbedeutend erscheinen, als dass wir uns mit ihnen befassen sollten. Das ist, wie Maimonides sagt, „ein natürliches Phänomen“.

Dieser grundlegende Unterschied zwischen einem natürlichen und einem übernatürlichen Verständnis des Judentums zieht sich durch viele Epochen der jüdischen Geschichte: zwischen den Weisen und den Priestern, zwischen den Philosophen und den Mystikern, zwischen Rabbi Ismael und Rabbi Akiwa, zwischen Maimonides und Juda Halevi und so weiter bis in die Gegenwart.

Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht alle Ansätze des religiösen Glaubens im Judentum übernatürliche Ereignisse voraussetzen, also Ereignisse, die nicht mit den Parametern der Wissenschaft im weitesten Sinne erklärt werden können. Gott ist jenseits des Universums, aber seine Handlungen innerhalb des Universums können dennoch den Naturgesetzen und der Kausalität entsprechen.[1]

Nach diesem Verständnis verändert das Gebet die Welt, weil es uns verändert. Die Tora hat die Kraft, die Gesellschaft zu verändern, nicht durch Wunder, sondern durch Effekte, die mit den Mitteln der politischen Theorie und der Sozialwissenschaften vollständig erklärbar sind. Dies ist nicht der einzige Zugang zum Judentum, aber es ist der Ansatz von Maimonides, und er bleibt einer der beiden großen Wege zum Verständnis unseres Glaubens.

[1] Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Zugängen zu Ereignissen als natürliche oder übernatürliche Phänomene sei auf den Aufsatz von Rabbi Sacks zu Paraschat Beshalach verwiesen, der in diesem Jahr in deutscher Übersetzung erschienen ist:

https://media.rabbisacks.org/20240124002747/GERMAN-Beshallach-Main-5784.pdf

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier