SCHABBAT
Schau, was in dir steckt!
Ein Segen ist nichts Magisches – vielmehr soll er einem Menschen sein Potenzial bewusst machen
Und er segnete sie an jenem Tag und sprach: ›Mit dir wird Israel segnen und sagen: G’tt mache dich wie Ephraim und wie Menasche‹« (1. Buch Mose 48,20). Laut Raschi (1040–1105), einem der wichtigsten mittelalterlichen Kommentatoren der Tora, sollte ein Vater, der seine Kinder segnen möchte, diesen Vers benutzen.
In unserem Wochenabschnitt geht es hauptsächlich um die Segnungen von Kindern, und zwar von Söhnen. Jakow segnet seine zwölf Söhne sowie auch seine Enkelsöhne Ephraim und Menasche.
Aber warum nehmen Segnungen solch einen zentralen Platz in diesem Wochenabschnitt ein? Ein Segen ist im Judentum keinesfalls etwas Übernatürliches, und er hat auch nichts von einem Zauberspruch. Wie schon König Schlomo in Kohelet (1,9) sagt, gibt es nicht Neues unter der Sonne. Demzufolge kann ein Segen nicht auf magische Art und Weise einer Person neue Kräfte oder Fähigkeiten verleihen. Der Sinn und Zweck eines Segens ist vielmehr, einem Menschen bisher unentdeckte Begabungen und brachliegende Quellen der inneren Stärke bewusst zu machen, sodass sie zum Vorschein kommen.
STAMMESVÄTER Als Jakow seine Söhne und zwei seiner Enkel segnete, waren dies nicht nur individuelle, persönliche Segen. Vielmehr segnete er sie als Repräsentanten des jüdischen Volkes, als die zwölf Stammesväter.
Rabbiner Jacob Emden (1698–1776) schrieb in seinem Kommentar zum Siddur, dass genauso, wie die Väter ihre Söhne segnen, es die Rabbiner mit ihren Schülern tun. Das verbindende Glied zwischen beiden ist die pädagogische Aufgabe, die der Vater gegenüber seinen Söhnen erfüllt und der Rabbiner gegenüber seinen Schülern. Der Segen hat in dieser Hinsicht eine äußerst wichtige Funktion, da die Gesegneten innerlich daran wachsen können.
Bevor Jakow jeden einzelnen seiner Söhne und seine zwei Enkelsöhne segnete, wollte er allen Anwesenden, also allen Stammesvätern und somit dem ganzen jüdischen Volk, das Ende aller Tage offenbaren. In diesem Moment aber, erklärt Raschi, habe ihn die Prophetie verlassen, und er sprach »andere Dinge« aus.
Zweierlei Fragen drängen sich auf: Warum wollte Jakow überhaupt vom Ende aller Tage erzählen? Zweitens, was genau waren die »anderen Dinge«, von denen er dann erzählte?
Diese Segen sind nicht Segen, wie wir sie normalerweise kennen. Sie offenbaren die Charakterzüge der Stammesväter, ihre Stärken und ihr Können, alles, was sie einzigartig macht und womit sie das jüdische Volk als Ganzes entscheidend prägen werden. Jakow verstand es, jeden Menschen nicht nur oberflächlich zu sehen, sondern vielmehr auch dessen inneres Potenzial. So ist der Inhalt seiner Segen auf jeden Stammesvater speziell zugeschnitten. Mit der Annahme des Segens drückte der Gesegnete aus, dass er die ihm gesetzten Ziele verfolgen will.
Indem er nicht nur seine eigenen Söhne, sondern auch zwei seiner Enkelsöhne segnete, übernahm Jakow letztlich auch die spirituelle Verantwortung für sie. Wenn man den Text liest, sieht man, dass der zuerst geborene Menasche dem zweitgeborenen Ephraim untergeordnet wird. Der Grund dafür, so Jakow, sei die wichtigere Stellung des Stammes Ephraim. Wäre der Sinn der Segen ein mystischer, überirdischer, so wäre es nicht nötig gewesen, die Reihenfolge zu ändern. Der Segen soll aber etwas Irdisches, Reelles bewirken und ist für das alltägliche Leben wichtig.
GROSSVATER Gibt es einen besonderen Grund dafür, dass den Segen hier der Großvater und nicht der Vater spricht? Eine mögliche Antwort gibt der Talmud (Baba Batra 115a). Er zitiert Rami Bar Chama, der sagt, dass jeder, der einen kranken Angehörigen oder Bekannten hat, zu einem Weisen kommen und ihn um einen Segen bitten soll. Dies beruht auf einem Vers in Mischlei: »Der Grimm des Königs ist ein Todesengel, doch der kluge Mann versöhnt ihn« (16,14).
Rabbiner Mosche Feinstein (1895–1986) leitet aus dieser Talmudstelle ab, dass G’tt den Segen oder das Bittgebet eines Zaddiks, eines Gerechten, nicht abweist. Was für Gebete für Kranke gilt, kann auch auf alles andere angewendet werden.
Dies ist eine weitere Erklärung, warum Rabbiner Jacob Emden den Brauch angibt, dass Rabbiner ihre Schüler segnen. Denn der Segen eines Weisen wird von G’tt nicht abgewiesen. Und so erklärt sich auch, warum der weise Großvater den Segen für die Enkelsöhne gesprochen hat.
Abschließend stellt sich die Frage: Was war an Ephraim und Menasche so besonders, dass bis zum heutigen Tag Väter ihre Söhne segnen, so zu werden wie die beiden Enkelsöhne Jakows?
Rabbiner Mordechai Elan (1915–1981) schlägt in seinem Werk Chidduschei Hatora folgende Lösung vor: Es gibt im Judentum ein Prinzip, dass frühere Generationen eine größere Heiligkeit besitzen als nachfolgende. So sind die drei Vorväter Awraham, Jizchak und Jakow als eine Gruppe zu sehen. Danach kommen die zwölf Stammesväter, die wiederum von der Generation ihrer Söhne abgelöst wurden. Obwohl Ephraim und Menasche rein chronologisch zur Generation der Söhne der zwölf Stämme gehören, standen sie auf einer derart hohen spirituellen Stufe, dass sie mit zur Generation der Stammesväter gezählt werden. Mit dem Segen »G’tt lasse dich werden wie Ephraim und Menasche« segnen Väter ihre Söhne, dass sie eine eben solch hohe spirituelle Stufe erreichen sollen.
BRUDERZWIST Die Tora berichtet seit Adam und Chawa in jeder Generation von Streit, meist streiten Brüder um das Erbrecht: Kain und Hewel, Jizchak und Jischmael, Jakow und Esaw sowie Josef und seine Brüder. Als Jakow erst den Zweitgeborenen segnet und danach den Erstgeborenen, hätte dies ebenfalls Eifersucht und Streit verursachen können. Menasche war aber nicht von Eifersucht zerfressen, obwohl es eine natürliche und auch verständliche Reaktion gewesen wäre.
Dies ist der Segen, mit dem wir unsere Kinder segnen, unser innigster Wunsch für sie. Wir segnen unsere Kinder und wünschen ihnen, dass Frieden und Harmonie zwischen ihnen herrsche, nicht Eifersucht und Streit. Möglicherweise meint Jakow diese Art von Segen, wenn er von »anderen Dingen« spricht. Er konnte seinen Söhnen nicht vom Ende aller Tage, den Zeiten des Maschiach, berichten. Stattdessen verriet er ihnen den bestmöglichen Weg dahin.
Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 24.12.2015