Zu Zeiten der Tora durften Männer, die Angst hatten, nicht mit in den Krieg ziehen
Im Wochenabschnitt Schoftim spricht die Tora unter anderem über die jüdische Kriegsführung sowie über die Auswahlkriterien der Soldaten, die mit in den Krieg ziehen dürfen.
So steht es im 5. Buch Mose 20: »Wenn du gegen deine Feinde in den Krieg ziehst und Rosse und Wagen siehst, ein Volk, das zahlreicher ist als du, so fürchte dich nicht vor ihnen, denn mit dir ist der Ewige … Wenn ihr nun zur Schlacht heranrückt, dann trete der Priester vor und rede zum Volk.«
KOHEN Es gab einen Priester mit dem besonderen Titel »Kohen maschuach Milchama« (»der für die Schlacht gesalbte Priester«). Seine Aufgabe war es, den Soldaten, bevor sie in den Krieg zogen, eine motivierende Brandrede zu halten und ihnen Anweisungen zu geben. Er kündigte an, dass jeder, der ein neues Haus baut, aber noch kein »Chanukat HaBait« hatte, das Haus also noch nicht eingeweiht hatte, vom Kampf befreit sei.
Ebenso war eine Person, die einen neuen Weinberg gepflanzt hatte, aber wegen der Einschränkungen durch die Agrargesetze der Tora noch keine Gelegenheit hatte, Wein davon zu trinken, vom Kampf befreit.
Gleichermaßen wurde einem Mann, der mit einer Frau verlobt war, sie aber noch nicht geheiratet hatte, ein Aufschub vom Krieg gewährt.
ANGST Schließlich fügte der Kohen maschuach Milchama hinzu, dass jeder, der Angst und schwache Nerven hatte, nach Hause zurückkehren dürfe, damit er in der Hitze des Kampfes nicht »die Herzen seiner Brüder zum Schmelzen bringt« – indem er vom Schauplatz der Kämpfe wegläuft.
Im Talmud (Sota 44a) streiten sich die Gelehrten über die wahre Bedeutung desjenigen, der »ängstlich und schwach im Herzen« war. Rabbi Akiwa interpretiert den Ausdruck wörtlich. Es sei damit ein Mann gemeint, der in Panik geraten würde, wenn er die Kriegsgeräusche hört und das Geschehen sieht. Schon ein gezogenes Schwert zu sehen, würde ihn aus dem Gleichgewicht bringen, ihn erschrecken und unfähig machen, zu kämpfen.
Nach Ansicht von Rabbi Jossi aus Galiläa bezieht sich der Ausdruck auf jemanden, der Angst vor seinen eigenen geistigen Mängeln hat (wörtlich: Angst vor den Sünden, die in seinen Händen liegen). Dieser Soldat fürchtet nicht die Anblicke und Geräusche der Schlacht, sondern er fürchtet, dass er den göttlichen Schutz, den ein Soldat im Kampf benötigt, nicht verdient, weil er zuvor spirituelle Fehler begangen und gesündigt hat.
VERDIENSTE Schlachten zu gewinnen, basierte auf geistigen Verdiensten. Deshalb brauchten und wollten die Generäle in ihren Truppen rechtschaffene Soldaten haben. Wenn es einem Soldaten an Verdiensten mangelte und er vielleicht sogar eine Bestrafung verdiente, wäre es besser fürs Heer, er würde das Feld verlassen, bevor die Kämpfe beginnen.
Rabbi Jossi erklärt, die Tora habe diese unwürdigen Soldaten vom Schlachtfeld fernhalten wollen. Die Aufzählung von Aufschiebungen für Männer mit neuen Häusern, Weinbergen oder Bräuten sei lediglich eine »Deckung« gewesen, um denjenigen, die erkannten, dass sie geistig unwürdig sind, zu ermöglichen, die Reihen der anderen Soldaten zu verlassen, ohne öffentlich in Verlegenheit zu geraten.
Der Tolner Rebbe sprach einmal die folgende Idee im Namen von Reb Jecheskel Kuzmir (1755–1856), dem Gründer der Modzitzer Chassidim, aus: »Kommen Sie und sehen Sie, wie besonders die Tora ist. Sie will eine andere Person vor Verlegenheit schützen. Die Tora ist bereit, all diese Menschen (den neuen Hausbesitzer, den neuen Weinbergbesitzer, den Neuverlobten), die höchstwahrscheinlich jung und gute Soldaten waren, vom Dienst zu befreien, nur um diese arme Seele, die sich wegen der Sünden, die er begangen hat, im Herzen schwach fühlt, nicht in Verlegenheit zu bringen.
SCHEIDUNG Der Tolner Rebbe benutzte diese Idee auch, um eine talmudische Passage in einem völlig anderen Kontext zu erklären. In einer Mischna (Traktat Gittin 90a) gibt es einen berühmten Streit darüber, welche halachischen Gründe für einen Mann zulässig sind, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Nach Beit Schamai ist der einzige Grund für die Scheidung von einer Frau ihre Untreue. Wenn die Frau niemals untreu gewesen ist, darf man sich nicht von ihr scheiden lassen. Beit Hillel hingegen erlaubt es einem Mann, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, »selbst wenn sie nur das Abendessen anbrennen lässt«.
Dies scheint eine ungewöhnliche Position für die Schule von Hillel zu sein. Normalerweise wird Beit Hillel als viel toleranter und als großer Unterstützer der Ehe angesehen. Doch hier hat es den Anschein, dass er jedem Ehemann erlaubt, seine Frau aus einer Laune heraus loszuwerden, selbst für ein kleines Vergehen.
Reb Jecheskel Kuzmir sagt: »Nein«. Es sei das gleiche Konzept wie in der vorigen Erklärung. In Wirklichkeit möchte Beit Hillel nicht, dass sich der Mann von seiner Frau scheiden lässt, es sei denn, es gibt ernsthafte Gründe – die etwa dem entsprechen, was Beit Schamai sagt.
UNTREUE Dürfe sich ein Mann jedoch nur dann von seiner Frau scheiden lassen, wenn sie ihm untreu gewesen ist, dann wüsste jeder, dass er sie aus Gründen der Untreue weggeschickt hat, und sie würde nie wieder heiraten können, weil sie als promiskuitiv bekannt wäre. Dieses Vergehen würde die Frau für den Rest ihres Lebens begleiten und für immer an ihr kleben, ohne ihr eine Möglichkeit zu geben, sich zu bessern und ein neues Leben anzufangen.
Daher vertritt Beit Hillel die Position, dass sich ein Mann theoretisch aus irgendeinem, auch banalen, Grund von seiner Frau scheiden lassen kann.
Auf diese Weise wird der Rest der Welt nicht davon ausgehen, dass sie ihren Ehemann betrogen hat. Man wird ihr den Vorteil des Zweifels geben können und vermuten, dass sie vielleicht nur aus Versehen den Tscholent hat anbrennen lassen.
Dies ist das gleiche Konzept, wie es von Rabbi Jossi aus Galiläa in Bezug auf den Soldaten, der gesündigt hat, angewendet wurde: Die Tora tut alles, um jemanden, sei es ein Soldat oder eine Frau, vor Scham und Verlegenheit zu bewahren, damit andere keine falschen Schlussfolgerungen ziehen.
Aus: Allgemeiner Jüdischer Wochenzeitung – 21.08.2020