Sprint oder Marathonlauf
Acharej Mot-Kedoschim 5781
Es war ein einzigartiger Moment unvergleichlicher Führungskraft auf ihrem absoluten Höhepunkt. Vierzig Tage lang hatte Moses mit Gott kommuniziert und von ihm das auf Steintafeln geschriebene Gesetz empfangen. Dann setzte Gott ihn darüber in Kenntnis, dass das Volk gerade ein goldenes Kalb gemacht hatte und er sie also vernichten müsse. Es war die schlimmste Krise der Wüstenjahre, und sie forderte Moses’ ganzes Führungstalent.
Zuerst betete er zu Gott, das Volk nicht zu vernichten. Gott willigte ein. Sodann stieg er vom Berg hinab und sah das um das Kalb tanzende Volk. Sofort zerschlug er die Tafeln, verbrannte das Kalb, mischte seine Asche mit Wasser und ließ es das Volk trinken. Dann rief er die Menschen auf, sich ihm anzuschließen. Die Leviten folgten dem Ruf und führten eine blutige Bestrafung durch, bei der dreitausend Menschen starben. Daraufhin stieg Moses wieder auf den Berg und betete vierzig Tage und Nächte lang. Er blieb weitere vierzig Tage bei Gott, während ein neuer Satz von Schrifttafeln graviert wurde. Schließlich kam er am zehnten Tischrej vom Berg herab und trug die neuen Gesetzestafeln als sichtbares Zeichen mit sich, dass Gottes Bund mit Israel bestehen bleiben würde.
Dies war eine außergewöhnliche Demonstration von Führerschaft, teilweise kühn und entschlossen, dann wiederum langsam und beharrlich. Moses hatte mit beiden Seiten zu ringen: die Israeliten zur Teschuwa und Gott zur Vergebung zu bewegen. In diesem Moment war er die
herausragendste Verkörperung des Namens „Israel“, was bedeutet: einer, der mit Gott und mit den Menschen ringt und sich durchsetzt.
Die gute Nachricht ist: Es gab einmal einen Moses, dank dessen Initiative das Volk vor der Vernichtung bewahrt wurde. Die schlechte Nachricht ist: Was aber, wenn es keinen Moses gibt? Die Tora selbst sagt: „Kein anderer Prophet ist in Israel entstanden wie Moses , den Gott von Angesicht zu Angesicht erkoren“ (Deut. 34:10). Was nun, wenn es an einer so heldenhaften Führungspersönlichkeit fehlt? Das ist das Problem, vor dem jede Nation, jedes Unternehmen, jede Gemeinde und jede Familie steht. Leicht denkt man: „Was würde Moses tun?“ Moses aber tat, was er tat, weil er eben so war, wie er war. Wir sind nicht Moses. So steht jede Gruppe von Menschen, die einmal von der Größe einer herausragenden Führungspersönlichkeit berührt wurde, vor einem Kontinuitätsproblem. Wie kann sie einen langsamen Niedergang vermeiden?
Die Antwort wird in unserem Wochenabschnitt gegeben. Der Tag, an dem Moses mit den zweiten Schrifttafeln vom Berg herabstieg, sollte in die Ewigkeit eingehen, als sein Jahrestag zum heiligsten aller Tage wurde: Jom Kippur. An diesem Tag sollte sich das Drama von Teschuwa und Kaparah, Reue und Sühne, jährlich wiederholen. Diesmal sollte jedoch die Schlüsselfigur nicht Moses, sondern Aaron sein, nicht der Prophet, sondern der Hohepriester.
Das transformative Ereignis verewigt sich, indem es zum Ritual gemacht wird. Max Weber nannte dies die Routinisierung von Charisma.1 Ein einzigartiger, nicht wiederholbarer Moment wird zu einer sich immer aufs Neue wiederholenden Zeremonie. Wie James MacGregor Burns es in seinem klassischen Werk Leadership formuliert: „Der am längsten währende reale Akt der Führung ist die Schaffung einer Institution – einer Nation, sozialen Bewegung, politischen Partei oder Bürokratie -, die weiterhin moralisch wegweisend ist und notwendigen sozialen Wandel fördert, lange nachdem die kreativen Führer gegangen sind.“2
Es gibt einen bemerkenswerten Midrasch, in welchem eine Reihe von Weisen ihre Vorstellung von Klal Gadol Batorah, „dem großen Prinzip der Tora“, darlegen. Ben Asai sagt, es sei der Vers: „Dies ist das Buch über die Nachkommen Adams: An dem Tag, da Gott den Menschen schuf, bildete er ihn im Ebenbilde Gottes“ (Gen. 5:1). Ben Soma sagt, dass es ein umfassenderes Prinzip gibt: „Höre, Israel, der Ewige, unser Gott, der Ewige ist einzig.“ Ben Nannas sagt, es gäbe ein noch weitgreifenderes Prinzip: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Ben Pasi sagt, dass es ein noch umfassenderes Prinzip gibt: „Das erste Schaf soll am Morgen dargebracht werden und das zweite Schaf gegen Abend“ (Exod. 29:39). Heute würden wir sagen: Schacharit, Mincha und Maariv. In einem Wort: „Routine“. Die Passage schließt mit dem Satz: Das Gesetz folgt Ben Pasi.3
Die Bedeutung von Ben Pasis Aussage ist klar: Alle hohen Ideale der Welt – der Mensch als das Ebenbild Gottes, der Glaube an die allumfassende Einheit Gottes und die Nächstenliebe – sind von geringer Bedeutung, solange sie nicht in Gewohnheiten des Handelns umgesetzt werden, welche wiederum zu Gewohnheiten des Herzens werden. Wir alle können uns an Momente der Offenbarung oder geistigen Klarheit erinnern, in denen wir plötzlich verstanden, worum es im Leben geht, was wahre Größe ist und wie wir leben wollen. Nach einem Tag, einer Woche oder höchstens nach einem Jahr verblasst jedoch die Inspiration und wird zu einer fernen Erinnerung, und wir verbleiben unverändert, wie wir zuvor waren.
Die Größe des Judentums besteht darin, dass es sowohl den inspirierenden Persönlichkeiten eines Propheten und Priesters einen Platz einräumt, als auch den täglichen Routinen der Halacha, die erhabene Visionen in konkrete Verhaltensmuster verwandeln, welche wiederum das Gehirn neu konfigurieren und verändern, wie wir uns fühlen und wer wir sind. .
Eine der außergewöhnlichsten Passagen, die ich je über das Judentum gelesen habe, geschrieben von einem Nicht-Juden, befindet sich in The Reigning Error, William Rees-Moggs Buch über Makroökonomie.4 Rees-Mogg (1928-2012) war ein Finanzjournalist, der zunächst Herausgeber der Times wurde, dann Vorsitzender des Arts Council und schließlich stellvertretender Vorsitzender der BBC. Seiner Konfession nach war er überzeugter Katholik.
Er beginnt das Buch mit einem völlig unerwarteten Lobgesang auf das halachische Judentum. Er erklärt, warum er dies tut. Inflation, sagt er, ist eine krankhafte Unmäßigkeit, ein chronisches Versagen der Disziplin, in diesem Fall in Bezug auf das Geld. Was das Judentum einzigartig macht, fährt er fort, ist sein Rechtssystem. Dieses ist von Christen fälschlicherweise als legalistisch trocken kritisiert worden. Tatsächlich war das jüdische Gesetz für das jüdische Überleben unerlässlich, weil es „einen Maßstab, an dem Handlungen geprüft werden konnten, vorgab, ein Gesetz zur Regulierung des Verhaltens, einen Fokus für Loyalität und geeignete Parameter für die Energie der menschlichen Natur.“
Alle Energiequellen benötigen eine Form der Eingrenzung, ohne die sie leicht zur Gefahr werden können. Die Kernenergie ist hierfür das wohl beste Beispiel. Das jüdische Gesetz hat immer als Einhegung für die spirituelle und intellektuelle Energie des jüdischen Volkes fungiert. Diese Energie „ist nicht einfach explodiert und danach versiegt; sie ist als eine kontinuierliche Kraft nutzbar gemacht worden.“ Was Juden haben, so argumentiert er, fehlt den modernen Volkswirtschaften: ein System der Selbstkontrolle, das es der Wirtschaft ermöglicht, ohne Boom und Crash, Inflation und Rezession zu gedeihen.
Das Gleiche gilt für Führungskräfte. In seinem Buch Good to Great argumentiert der Managementtheoretiker Jim Collins, dass große Unternehmen eines gemeinsam haben: eine Kultur der Disziplin. In Great By Choice verwendet er den Begriff des „20-Meilen-Marsches“: herausragende Organisationen planen für den Marathon, nicht für einen Sprint. Vertrauen und Zuversicht, sagt er, „kommen nicht von Motivationsreden, charismatischer Inspiration, zügellosem Aufheizen, unbegründetem Optimismus oder blinder Hoffnung.“ Es kommt von der Verbindlichkeit der Tat, Tag für Tag, Jahr um Jahr. Große Unternehmen arbeiten in einem konkreten Rahmen, der methodisch und konsequent genau abgesteckt ist. Sie ermutigen ihre Mitarbeiter, selbstdiszipliniert zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Sie reagieren nicht übermäßig auf Veränderungen, sei es zum Guten oder zum Schlechten. Sie behalten den fernen Horizont im Auge. Vor allem aber verlassen sie sich nicht auf charismatische Führungspersönlichkeiten, die das Unternehmen allenfalls für eine Weile in Schwung bringen, ihm aber nicht die innere Kraft geben, die es braucht, um langfristig zu florieren.
Das klassische Beispiel für die von Burns, Rees-Mogg und Collins formulierten Prinzipien ist der Wandel, der sich zwischen Ki Tissa und Acharej Mot, zwischen dem ersten und dem zweiten Jom
Kippur vollzog: zwischen der heroischen Führung des Moses‘ auf dem Weg aus dem ägyptischen Exil und der stillen, zurückhaltenden priesterlichen Disziplin eines jährlichen Buß- und Versöhnungstages.
Im Judentum allgemein und konkret in seinen Führungsprinzipien geht es darum, Ideale in Gewohnheiten des Herzens formende Handlungsregeln zu übertragen. Wollen wir nie die Inspiration der Propheten aufgeben, ebenso wenig aber die Routinen, die Ideale in Taten und unsere Träume in Realität verwandeln.
1 Siehe Max Weber, Economy and Society (University of California Press, 1978, Oakland, California), 246 ff.
2 James MacGregor Burns, Leadership (Harper, 1978, New York), 454.
3 Die Passage wird in der Einleitung zum Kommentar Hakotev zu Ejn Jaakow, den gesammelten aggadischen Passagen des Talmuds, zitiert. Sie wird auch von Maharal in Netiwot Olam, Ahawat Rea 1, zitiert. 4 William Rees-Mogg, The Reigning Error: The Crisis of World Inflation (Hamilton, 1974, London), 9–13.