Jun ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Zuversicht

Schelach Lecha 5781

Es war vielleicht das größte kollektive Versagen von Führungspersönlichkeiten in der Tora. Zehn der Männer, die Moses ausgesandt hatte, um das Land auszukundschaften, kamen mit einem Bericht zurück, der darauf ausgelegt war, das Volk zu demoralisieren.

„Wir sind in das Land gekommen, in das du uns gesandt hast. Es fließt auch wahrlich von Milch und Honig, und dies sind seine Früchte. Nur dass das Volk, das im Land wohnt, mächtig ist, und die Städte sind befestigt und sehr groß… Wir können nicht gegen das Volk ziehen, denn es ist stärker als wir… Das Land, das wir durchzogen haben, um es zu erkunden, ist ein Land, das seine Bewohner verzehrt, und alle Menschen, die wir darin gesehen haben, waren von überaus großem Wuchs… Wir kamen uns wie Heuschrecken vor, und so kamen wir auch ihnen vor.“ (Num. 13:27-33)

Das war Unsinn, und sie hätten es wissen müssen. Sie hatten Ägypten, das größte Reich der Antike, nach einer Folge von Plagen verlassen, die dieses mächtige Land in die Knie gezwungen hatten. Sie hatten die scheinbar undurchdringliche Barriere des Schilfmeeres durchquert. Sie hatten gegen die Amalekiter, ein furchtbares Kriegsvolk, gekämpft und sie bezwungen. Sie waren sogar mit dabei, als ihr Volk am Meer ein Lied sang, das die Worte enthielt:

Die Völker hören es und beben,

Zittern ergreift die Bewohner des Philisterlandes.

Nun sind die Fürsten von Edom konsterniert,

Zittern ergreift die Mächtigen Moabs;

Es verzagen die Einwohner Kanaans (Ex. 15:14-15).

Sie hätten wissen müssen, dass die Bewohner des Landes sich vor ihnen zu fürchten hatten, nicht umgekehrt. Und so war es auch, als Rahab vierzig Jahre später zu den von Josua gesandten Kundschaftern sprach:

Ich weiß, dass Gott euch dies Land gegeben hat und dass die Furcht vor euch über uns gekommen ist und alle Bewohner des Landes vor euch in Angst aufgelöst sind. Denn wir haben gehört, wie Gott das Wasser des Schilfmeeres vor euch austrocknete, als ihr aus Ägypten zogt, und was ihr den beiden Königen der Amoriter jenseits des Jordans, Sichon und Og, angetan habt, die ihr dem Untergang geweiht habt. Und als wir das hörten, schmolz unser Herz, und es blieb kein Mut mehr in einem Menschen vor euch; denn der Ewige, euer Gott, ist der Herr in den Himmeln oben und auf der Erde hienieden. (Josua 2:9-11)

Nur zwei der zwölf Kundschafter zeigten Führungsstärke: Josua und Kaleb. Sie sagten dem Volk, dass die Eroberung des Landes durchaus möglich sei, denn Gott sei mit ihnen. Das Volk hörte jedoch nicht auf sie. Dessen ungeachtet erhielten die beiden Anführer ihre Belohnung. Sie waren die Einzigen ihrer Generation, die das Land betreten durften. Mehr als das: Ihr beharrliches Glaubensbekenntnis und ihre Weigerung, sich zu fürchten, leuchten heute so hell wie vor dreiunddreißig Jahrhunderten. Sie sind die ewigen Helden des Glaubens.

Eine der vorrangigen Aufgaben jeder Führungspersönlichkeit, von Präsidenten bis hin zu Vätern und Müttern, ist es, den Menschen ein Gefühl der Zuversicht und des Vertrauens zu vermitteln: in sich selbst, in die Gruppe, der sie angehören, und in die Mission selber. Eine Führungskraft muss an die Menschen, die sie führt, glauben und diesen Glauben auch in ihnen wecken. Wie Rosabeth Moss Kanter von der Harvard Business School in ihrem Buch Confidence schreibt: „Bei der Führung geht es nicht um die Führungskraft, sondern darum, wie sie das Vertrauen der anderen aufbaut.“[1] Confidence, das englische Wort für „Zuversicht“, leitet sich übrigens vom lateinischen Begriff für „gemeinsam Vertrauen haben“ ab.

In der Tat gilt im Bereich menschlicher Unternehmen ein Gesetz der selbsterfüllenden Prophezeiung. Diejenigen, die sagen: „Das ist nicht zu schaffen“, haben wahrscheinlich ebenso recht wie die, welche sagen: „Das können wir schaffen.“ Fehlt einem das Vertrauen, wird man versagen. Hat man es – solides, gerechtfertigtes, auf Vorbereitung und vergangenen Leistungen beruhendes Vertrauen -, wird man der Herausforderung gerecht. Wohl nicht immer, aber doch oft genug, um über Rückschläge und Misserfolge zu triumphieren. Wie wir in unserem Kommentar zur Paraschat Beschalach erwähnt haben, ist dies der Sinn der Geschichte von Moses’ Händen während des Kampfes gegen die Amalekiter. Wenn die Israeliten nach oben blicken, gewinnen sie. Schauen sie nach unten, beginnen sie zu verlieren.

Das ist der Grund, warum die negative Darstellung jüdischer Identität, die in der modernen Geschichte so oft vorherrscht (Juden sind ein dem Hass ausgesetztes Volk, Israel ist eine isolierte Nation, jüdisch zu sein, bedeutet, Hitler einen posthumen Sieg zu verweigern), so falsch ist und warum jeder zweite Jude, der mit dieser Vorstellung erzogen wurde, sich dafür entscheidet, nicht jüdisch zu heiraten und die Reise des jüdischen Volkes abzubrechen.[2]

Der Harvard-Wirtschaftshistoriker David Landes geht in seinem Werk Wohlstand und Armut der Nationen der Frage nach, warum manche Länder sich wirtschaftlich nicht entwickeln, während andere spektakulär erfolgreich sind. Nach mehr als 500 Seiten genauer Analyse kommt er zu folgendem Schluss:

In dieser Welt tragen die Optimisten den Sieg davon, nicht, weil sie immer recht haben, sondern weil sie positiv sind. Selbst wenn sie falsch liegen, sind sie positiv, und das ist der Weg zu Leistung, Korrektur, Verbesserung und Erfolg. Wohldurchdachter, auf solider Bildung aufbauender Optimismus zahlt sich aus; Pessimismus kann nur den leeren Trost bieten, recht zu haben.[3]

Ich ziehe das Wort „Hoffnung“ dem Wort „Optimismus“ vor. Optimismus ist der Glaube, dass die Dinge besser werden; Hoffnung ist die Zuversicht, dass wir gemeinsam die Dinge besser machen können. Kein Jude, der die jüdische Geschichte kennt, kann wirklich Optimist sein. Indes, kein Jude, der diesen Namen verdient, gibt die Hoffnung auf. Die pessimistischsten der Propheten, von Amos bis Jeremia, waren immer noch Stimmen der Hoffnung. Durch ihre Schwarzseherei versagten die Kundschafter als Führer und als Juden. Jude zu sein, bedeutet, ein Vertreter der Hoffnung auf Erden zu sein.

Der bei weitem bemerkenswerteste aller Kommentatoren zur Episode der Kundschafter ist der Lubawitscher Rebbe, Rabbi Menachem Mendel Schneerson. Er wirft die offensichtliche Frage auf. Die Tora betont, dass die Kundschafter allesamt Führer, Fürsten, Stammesoberhäupter waren. Sie wussten, dass Gott mit ihnen war und es mit Seiner Hilfe nichts gab, was sie nicht hätten vollbringen können. Sie wussten, dass Gott ihnen kein Land versprochen hätte, das sie nicht hätten erobern können. Warum kamen sie dann mit einem negativen Bericht zurück?

Die Antwort des Rebben verkehrt unser herkömmliches Verständnis der Begebenheit mit den Kundschaftern ins Gegenteil. Sie hatten, so sagte er, keine Angst vor einer Niederlage. Sie hatten Angst vor dem Erfolg. Was sie dem Volk sagten, war eine Sache, aber was sie dazu brachte, dies zu sagen, war eine ganz und gar andere.

Vergegenwärtigen wir uns ihre Situation in der Wüste: Sie lebten in unmittelbarer und ständiger Nähe zu Gott. Sie tranken Wasser aus einem Felsen und aßen Manna vom Himmel. Sie waren umgeben von den Wolken der Herrlichkeit. Wunder begleiteten sie auf ihrem Weg.

Was würde ihre Situation im verheißenen Land sein? Sie müssten Kriege führen, das Land pflügen, säen, Ernten einfahren, eine Armee, eine Wirtschaft und ein Sozialsystem aufbauen und unterhalten. Sie müssten das tun, was jedes andere Volk auch tut: in der realen Welt des empirischen Raums leben. Was würde aus ihrer Beziehung zu Gott werden? Ja, Er würde immer noch präsent sein im Regen, der die Ernte wachsen ließ, im Segen auf dem Feld, in der Stadt und im Tempel in Jerusalem, den sie dreimal im Jahr besuchen würden. Aber nicht sichtbar, intim, auf wundersame Weise, wie der Ewige es in der Wüste war. Das ist es, was die Kundschafter fürchteten: nicht Versagen, sondern Erfolg.

Dies, sagte der Rebbe, war eine noble Sünde, aber dennoch eine Sünde. Gott will, dass wir in der realen Welt der Nationen, ihrer Wirtschaften und Armeen leben. Gott will, dass wir ihm, wie Er es ausdrückt, „eine Wohnung in der niederen Welt“ schaffen. Er möchte, dass wir die Schechina, die göttliche Gegenwart, in den Alltag bringen. Es ist leicht, Gott in völliger Abgeschiedenheit und auf der Flucht vor Verantwortung zu finden. Schwieriger ist es, ihn im Büro, im Geschäft, auf Bauernhöfen und Feldern und Fabriken und an der Börse zu finden. Aber es ist diese schwierige Herausforderung, zu der wir aufgerufen sind: Gott einen Raum inmitten dieser körperlichen Welt zu bereiten, einer Welt, die er erschaffen und siebenmal für gut befunden hat. Das ist es, was zehn der Kundschafter nicht verstanden haben. Es war ein geistiges Versagen, das eine ganze Generation zu vierzig Jahren unnötiger Wanderschaft in der Wüste verdammte.

Die Wahrheit der Worte des Rebben klingt heute sogar noch eindringlicher als damals, als er sie zum ersten Mal sprach. Während sie eine tiefgründige Aussage über die jüdische Aufgabe vermitteln, sind sie darüber hinaus eine ausdrucksstarke Darstellung eines Konzepts, das erst vor relativ kurzer Zeit Eintritt in die Begriffswelt der Psychologie gefunden hat – die Angst vor dem Erfolg.[4]  Wir alle sind mit der Idee der Angst vor dem Versagen vertraut. Sie ist es, die viele von uns davon abhält, Risiken einzugehen. Stattdessen verharren wir lieber in unserer Komfortzone.

Nicht weniger real ist jedoch die Angst vor dem Erfolg. Wir wollen erfolgreich sein: Das sagen wir uns und anderen. Oft aber fürchten wir uns unbewusst vor dem, was der Erfolg mit sich bringen könnte: neue Verantwortlichkeiten, Erwartungen anderer, die wir vielleicht nur schwer erfüllen können, und so weiter. So verwirklichen wir nicht, was wir aber hätten erreichen können, hätte uns nur jemand Zuversicht und den Glauben an uns selbst vermittelt.

Das Gegenmittel gegen die Angst, sowohl vor dem Versagen als auch vor dem Erfolg, liegt in der Passage, mit der die Parascha schließt: dem Gebot der Zizit (Num. 15:38-41). Uns wird befohlen, Schaufäden an unseren Kleidern anzubringen, darunter auch einen blauen Faden. Blau ist die Farbe des Firmaments, des Himmels. Blau ist die Farbe, die wir sehen, wenn wir nach oben schauen (zumindest in Israel; in Großbritannien sehen wir eher Wolken). Wenn wir lernen, nach oben (oder: in die Höhe) zu schauen, überwinden wir unsere Ängste. Führungskräfte geben Menschen Selbstvertrauen, indem sie sie lehren, den Blick aufzurichten. Wir sind keine Heuschrecken, so lange wir nicht glauben, dass wir es sind.

[1] Rosabeth Moss Kanter, Confidence (Random House, 2005), S. 325.

[2] National Jewish Population Survey 1990: A Portrait of Jewish Americans (Pew Research Center, 1. Oktober 2013).

[3] David Landes, The Wealth and Poverty of Nations: Why Some Are So Rich and Some So Poor (London, Little, Brown, 1998), S. 524. Deutsche Ausgabe: Wohlstand und Armut der Nationen: Warum die einen reich und die anderen arm sind (Pantheon Verlag, 2009).

[4] Manchmal auch nach dem gleichnamigen Propheten „Jona-Komplex“ genannt. Siehe Abraham Maslow, The Farther Reaches of Human Nature (Harmondsworth, Penguin Books, 1977), S. 35-40.